Jackwolfskinisierung

Manche Firmen erwerben sich mit guten Produkten einen guten Ruf. Sie sind vollkommen zu Recht erfolgreich. Und doch muss es irgendwo einen Knopf geben, der, sobald man ihn drückt, einen unaufhaltsamen Verfallsprozess in Gang setzt: die Jackwolfskinisierung.

Als der Sauerländer Förster Jacobinius Sperlingsschnabel im Jahre 1864 einige Stoffreste zu einem Wams vernähte, hätte er sich wohl kaum träumen lassen, dass sein Lebenswerk dereinst Inspiration für einen Blogartikel werden könnte.
Dieser rechtschaffene Mann, der seinen Namen im Laufe der Jahre zunächst in Jacobus Fuchsschwanz, dann in Jakob Wolfsfell und schlussendlich jenen Namen änderte, den wir heute mit dem allseits bekannten, alltäglichen, und vor allen Dingen tatzenhaften Signet verbinden, hatte nichts weiter im Sinn, als sich in den bitterkalten Nächten auf dem Hochsitz ein wenig Wärme zu verschaffen.

Wie hätte er auch ahnen können, dass sein Schaffen in späteren Jahren zum Symbol für ein Phänomen werden sollte, welches eine hochangesehene Marke mit zunehmender Verbreitung zuerst alltäglich, und schlussendlich peinlich werden lässt: die Jackwolfskinisierung.

Dabei begannen die Geschicke der Marke mit dem Pfotenabdruck überaus vielversprechend. Die gute Qualität der von Jacobinius und seiner Frau gefertigten Wämser sprach sich schnell herum, und nach kurzer Zeit waren sämtliche Mägde der näheren Umgebung in einer eigenen Näherei angestellt.
Das, was wir heutzutage als „Expansion“ kennen, nannte Jacobinius‘ Enkel, der das Unternehmen später führte, schlicht „wachsen“. Unter seiner Ägide gedieh der Erbhof mit der Tatze prächtig, hervorragende Kleidungsstücke, später gar Rucksäcke, entsprachen den Bedürfnissen des Wald- und Waidmannes. Drei weitere Generationen später griff die aufkommende Outdoor-Bewegung gerne zu den Produkten des Hauses.

„Die Pfote“, das war lange Zeit Erkennungszeichen outdoorbegeisterter Lehrerpaare. Gute Qualität, gute Funktion, und alle waren zufrieden.

Bis, ja bis der Schalter umgelegt wurde.

Was kam zuerst?
Waren es die Schuhe, die auf einmal „auch noch“ ins Sortiment aufgenommen wurden? Oder begann das Ende damit, dass mindestens zweimal im Jahr eine neue „Kollektion“ ihren Einzug in den Katalog hielt? Etwas anders aussehend, ansonsten genau wie vorher.
Eine ständig neue, verwirrende Vielfalt weitgehend ähnlicher Produkte. Wobei der Produktmanager gemeinsam mit dem Marketing eher von Produktlinien und Marktsegmenten sprechen würde.

Aber „neu“. Der ideale Kunde kauft einmal, trägt im Urlaub, und wirft weg. Klamotten vom letzten Jahr taugen allenfalls noch für die Kleidertonne.

Muss ich, will ich schreiben, dass das Design zum Erkennungsmerkmal dessen wurde, was „neu“ war?
Nein, ich will nicht. Ich tue es nicht, denn ich würde damit ausdrücken, dass sich gute Funktion und gutes Aussehen ausschließen.
Ich wäre der letzte, der das behaupten würde, denn nicht erst das Bauhaus wusste, dass Form der Funktion folgt.
Etwas Funktion muss allerdings sein! Immer öfter fiel auf, dass funktional kaum veränderte Dinge als „neu“ angepriesen wurden.
Für die Herbstkollektion.
Vielmehr: die neue Herbstkollektion, weil die Herbstjacke von letztem Jahr dieselbe ist. Bloß der Grünton ist anders, und die Reißverschlüsse sind jetzt rot.

Die Freaks, Käufer der ersten Stunde fanden rasch heraus, dass sie im Katalog nichts mehr fanden. Lifegestyltes Zeugs hatte die hochgeschätzten Klamotten weitgehend verdrängt. Als nostalgisches Feigenblatt waren gerade ein paar Socken übrig geblieben. Dafür wuchs die Rubrik „Accessoires“ im Katalog: Gürtel, Schlüsselanhänger und Handyetuis.
Und die Uhrenkollektion.
Ganz recht, wir können auch Uhren. Uhren macht schließlich jeder, dem nichts besseres einfällt als seine unverwechselbare Marke bis zur Verwechselbarkeit breitzutreten.
Unsere sind tatziger.

Als nächsten Meilenstein auf dem langen Weg nach unten – damals wähnte man sich in der Geschäftsleitung noch auf dem aufsteigenden Ast – wurden in vielen Städten „Flagship Stores“ eröffnet, Pilgerstätten der Markenfreaks, die ihren Teil zu jackwolfskinisierten Städten beitrugen.

Tatzen. Überall Tatzen.

Wo die Träger derartiger Kleidung, wenn sie sich denn einmal begegneten, in gegenseitigem Verstehen zunicken konnten, von Outdoormensch zu Outdoormensch, war das Nicken längst nicht mehr praktikabel. Vor lauter Nickern hätte jede Einkaufsmeile deutscher Innenstädte an ein Heavy-Metal Konzert erinnert.

Headbanging im Geiste des Wolfs.

A propos deutsche Innenstädte. Sie hatten, das ist eine wenig bekannte Tatsache, längst einen Gesprächskreis gegründet. Monat für Monat saßen sie beisammen und klagten sich gegenseitig ihr Leid: „ich werde dauernd betatzt“.
„Komisch,“ sprach ein Wald, der zufällig zu Gast war, „mir kommt es vor, als stünden überall Schilder, auf denen ‚Pfoten raus‘ zu lesen ist“.

Und es jackwolfskinisierte sich weiter.

Die Familie selbst hatte sich längst aus dem Unternehmen zurückgezogen, an einen Investor verkauft.
Auf Investoren dreinschlagen ist wohlfeil. Es gibt genug schlechte Beispiele.
Und sicher ist es für die Herzblut-Fraktion leichter, Anerkennung bei den Fans zu finden.
Ich erlaube mir auch, daran zu zweifeln, dass ein abhängig beschäftigter Geschäftsführer in Dekaden denkt. Dass er den langfristigen, seine eigene Existenz überdauernden Erfolg des Unternehmens im Sinn hat.
Profit ist per se nicht verwerflich, sondern sogar notwendig.
Und auch den Gründern sei von Herzen gegönnt (Aha! Die Herzblutfraktion spricht!), dass sie mit ihren geilen Ideen, den genialen Produkten auch ordentlich verdienen.
Es kommt viel zu oft vor, dass Idealismus Lorbeeren, und zu selten, dass er Reichtum erntet.

Aber – ich wette, liebe Leser, ihr habt die ganze Zeit auf ein „aber“ gewartet. Hier ist es: aber der Bogen kann auch überspannt werden. Die Crux daran ist leider, dass man es erst merkt, wenn es zu spät ist.

Wenn er bricht.

Der Bogen.

Der Marktanteil.

Seltener der Kunde, der die Jackwolfskinisierung nicht mehr erträgt, und stattdessen zu anderen Marken abwandert, die sich längst in jenen Nischen festgesetzt haben, die dem größer gewordenen Unternehmen zu mickrig geworden sind.

Ein Symptom, vielleicht nicht einmal das, eher ein Hinweis auf eine weitere, noch niedrigere Stufe der Jackwolfskinisierung ist ein seltsames Gebaren, wenn es um rechtliche Themen geht.
Man wähnt sich in einem Schutzrecht verletzt, und prompt mahnt man den vermeintlichen Markenverletzer ab.
Vollkommen überrascht vom hereinbrechenden Shitstorm sieht man sich zum Zurückrudern genötigt, und noch während man eifrig paddelt, gelobt man gleichermaßen feierlich wie kleinlaut, man würde künftig mehr Fingerspitzengefühl walten lassen.
Die jackwolfskinisierte Marke ist dermaßen berauscht von ihrer eigenen Bedeutung, dass jede unkontrollierte Nennung des eigenen Namens als Bedrohung wahrgenommen wird. Kein Wunder, wenn der Verstand aussetzt.

Der erfolgreiche Jäger leidet unter Verfolgungswahn.

Ein Gerücht will übrigens von einem Plan wissen, europäische Wölfe auszurotten.
Weil deren Tatzen das Markenlogo kopieren.
Ohne Genehmigung.
Wie gesagt: es ist nur ein Gerücht.

Eine jackwolfskinisierte Firma hat ein großes Problem: weil große Teile der Welt jackwolfskinisiert sind, weil das Logo der jackwolfskinisierten Marke allüberall in Büros, Kinos, Autos, auf Bahnsteigen Autobahnraststätten und in Parks – seltener in der freien Natur, getragen wird. Weil es längst auf Koffern, Taschen, Jacken, Hosen, Gürteln und anderen Bestandteilen der jackwolfskinisierten urbanen Uniform geworden ist, glaubt man die Grenze des Wachstums erreicht.

Was tun?

Es gilt, eine weitere Stufe der Jackwolfskinisierung zu erklimmen. Besser gesagt: zu erstürzen, denn es geht wiederum abwärts. Man entdeckt etwas für sich, das schön mit „neuen Märkten“ umschrieben werden kann. Konkret springt man auf einen Zug, der gen Trailrunning fährt.
Möglicherweise sogar mit brauchbaren Produkten (ich verfüge über keine persönliche Erfahrung).
Schwierig wird die Sache für eine jackwolfskinisierte Marke dadurch, dass sie bereits sehr bekannt ist. Das stellt sie vor die Herausforderung, im neuen Markt ernst genommen zu werden.

Jedem alles sein wollen, das wird nicht leicht, denn everybody’s darling is everybody’s depp.

Jetzt wird also auch Trailrunning betatzt.

Vielleicht klappt’s ja.

Falls nicht, falls der Bogen bricht, erleben wir das Endstadium. Es mündet im Gang zum Discounter. Kappa wird heute bei Lidl verramscht.
Wenn die Marke stark genug ist, erbarmt sich eines Tages vielleicht jemand.
Schrumpft gesund.
Etwas kleiner und viel feiner.
Fokus auf Freaks?

Erst cool, dann überall, am Ende peinlich. Jackwolfskinisierung.

Als das Wetter Fieber hatte. Kein Stück in drei Akten.

Erster Akt,
worin Menschen sich an der Sonne erfreuen.
Die Temperatur erregt Besorgnis.

Vor nicht allzu langer Zeit, als das junge Eis in den gleichnamigen Dielen wuchs, begaben sich die Menschen Tag um Tag in die Natur, wo sie sich an der Sonne ergötzten.
Allzu gut erinnerten sie sich an den langen, dunklen Winter.

Sonne_Fieber.pngErster Akt,
worin Menschen sich an der Sonne erfreuen.
Die Temperatur erregt Besorgnis.

Vor nicht allzu langer Zeit, als das junge Eis in den gleichnamigen Dielen wuchs, begaben sich die Menschen Tag um Tag in die Natur, wo sie sich an der Sonne ergötzten.
Allzu gut erinnerten sie sich an den langen, dunklen Winter.

Während der schönen Tage stieg die Temperatur auf fünfundzwanzig Grad. Welch schöner Sommer!
Läuflinge griffen zu knappster Laufkleidung, lange Ärmel sah man allenfalls auf Fotos von Trailläufen. Im Gebirge.

Bei über dreißig Grad zur Mittagszeit trennte sich die Spreu derer, die entweder am frühen Morgen oder überhaupt nicht liefen, vom Weizen. Jene Läuflinge hatten sich angepasst, sie rannten schweißüberströmt durch die trockener werdende Natur.

Als die Quecksilbersäule schließlich über siebenunddreißig Grad Celsius kletterte, wo sie tagelang verharrte, blickten Läuflinge auf verdorrte Pflanzen, die ihre letzte Kraft aufboten, um ein wenig Schatten zu spenden. Wer genug Flüssigkeit im Leibe hatte, vergolt die Spende, indem er von seinem Überschuss abgab. Nicht wenige Läuflinge sahen sich in einer Schicksalsgemeinschaft mit der Pflanzenwelt. Ihre miktionsgelben T-Shirts mit dem Aufdruck „Ich bin ein Miktant“ sollten der heimischen Flora vor allem eines zeigen: eure Schattenspende soll nicht umsonst gewesen sein!

Andere hingegen erinnerten sich daran, dass ein Mensch oberhalb von 37° Körpertemperatur krank ist.
Bange Blicke hafteten auf den Messgeräten, bis allen klar wurde: das Wetter hat Fieber!

Was tun?

Ein fiebernder Mensch tut gut daran, sich zuhause – im Bett – aufzuhalten. Er bleibt Schule, Büro und Baustelle fern, er ruht sich aus.
Indes bleibt dies dem Wetter versagt. Es ist immer im Dienst. Ein Tag ohne Wetter? Undenkbar!

Zweiter Akt.
Ein Läufling hat eine rettende Idee.

Für guten Rat hätten wir damals jeden Preis bezahlt, wäre er denn feilgeboten worden. Manchen schien es sinnvoll, einige Tranchen wohlfeilen Geldes in südliche Länder zu übertragen – in der Hoffnung, von dort wenigstens einen rettenden Hinweis zu erhalten.
Andere dagegen pflegten eine Ausprägung sportlichen Tuns, die ich als „gut behütet“ bezeichne: Kopfbedeckungen aller Art konnten auf Läuflingshäuptern bewundert werden: Mützen, Tücher, Buffs, selbst Strohhüte konnte man sehen.

Dazu achteten sie penibel darauf, immer und überall gut hydriert zu sein. Viele hingen beim Thema Hydration der Vision pittoresk Fontänen versprühender Hydranten nach, wie wir sie von Bildern aus New York kennen. Diese blieben leider aus, zudem denken die meisten wohl insgeheim, dass selbst im Land der unbegrenzten Wasservorräte nur für Fotografen mit Wasser gespielt wird. Alle anderen – so auch wir – hingen an der Flasche.

Und sinnierten, wie dem fiebernden Wetter wohl zu helfen sei.

Eines Tages wurde ein Läufling vom Blitz getroffen. Von einem Geistesblitz, um genau zu sein. Wenn, so dachte er, dem Menschen kalte Güsse und Wadenwickel Linderung versprechen, dann sollte es beim Wetter genauso wirken!

Flugs machten er und viele, viele andere sich auf die Suche nach des Wetters Waden.
Weil jeder mithelfen wollte, stieg die Zahl der gelaufenen Wochenkilometer rapide an. Fieberhaft wurde nach den Waden des Wetters Ausschau gehalten, allerdings ohne, dass irgend jemand fündig geworden wäre. Kalte Güsse ergossen sich bloß in Münder und benetzten bedeckte Köpfe.

Besorgnis erregte die Gemüter der ach so hilfsbereiten Läuflinge, die dennoch unverzagt ihre Runden am Busen der Natur drehten (den zu berühren sie übrigens ebensowenig im Stande waren, wie bei des Wetters Waden).

Dritter und letzter Akt,
worin das Wetter zeigt, was es kann.

Die Situation spitzte sich weiter zu – es war unerträglich schwül geworden, und dunkle Wolken zogen auf.

Ach käme doch nur ein Gewitter!

Zwei Tage lang hielt drückende Schwüle auch die hartgesottensten unter den Läuflingen von ihrer Lieblingsbeschäftigung fern. Die meisten jedenfalls.
Bis, ja bis eines Tages eine mustergültige Schau dargeboten wurde. Wie nach einem Drehbuch hielt das Wetter, das sich offenkundig auf dem Weg der Genesung befand, eine perfekte Dramaturgie ein.

Zuerst wurde es noch ein wenig schwüler. Stickig. Kein Blatt bewegte sich.

Die Luft, nun, hätte man gewollt, man hätte sie in Brocken mit sich herumtragen können.

Dunkle, sehr dunkle Wolken am Horizont.

Leichter Wind, der bald auffrischte.

Türen schlugen, Gießkannen wurden umgeweht.

Dumpfes Grollen, Wetterleuchten aus der Ferne.

Und dann ging es los: Blitz und Donner, Sturm mit Hagel und kalten Güssen, es schüttete wie aus Kannen, der Himmel öffnete seine Schleusen, Wolkenbruch, Wolken erbrachen sich über die Landschaft, um Mensch und Natur zu erfrischen!

Gewitter, sie bieten eine tolle Show und kühlen gleichzeitig ab.
„Donnerwetter!“ sagen wir anerkennend.

Einunddreißig Grad am nächsten Tag.

Das Wetter war wieder gesund.

Eigentlichereien: der angekündigte Misserfolg

Vor dem Lauf ist die Zeit des Konjunktiv: Ich werde mein bestes Ergebnis gelaufen wären. Was sich wie ein verkorkster Satz liest, ist der Kern dessen, was manchen Läuflingen dann entschlüpft. Sie wissen genau, welche Umstände ein Topresultat würden verhindert haben.

Vor dem Lauf ist die Zeit des Konjunktiv: Ich werde mein bestes Ergebnis gelaufen wären. Was sich wie ein verkorkster Satz liest, ist der Kern dessen, was manchen Läuflingen dann entschlüpft. Sie wissen genau, welche Umstände ein Topresultat würden verhindert haben.

Der Konjunktiv ist wichtig.

Es könnte ja sein, dass eine persönliche Bestleistung herauskommt.
Und wenn nicht? Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Deshalb baut man vor, das erspart peinliche Fragen. Der angekündigte Misserfolg ist unsere Versicherung gegen unerwünschte Ergebnisse.

Mögliche Schadensfälle gibt es genug.

Das Wetter könnte nicht mitspielen – wobei damit keine Aussage darüber getroffen wird, welche Art Wetter denn ein gutes Wetter ist. Das weiss man immer erst hinterher. Falls beim Marathon endlich die Drei-Stunden-Marke fällt, ist alles in Ordnung. Aber wehe, die Uhr bleibt bei 3:04 stehen. Dann ist es gut, wenn man schon mal vorgesorgt hat: „ich habe ja gesagt: wenn bloß das Wetter passt.“

Eigentlich, sagen wir uns, eigentlich bin ich super.
Aber die Umstände!
Die Strecke könnte uns nicht ganz liegen. Bloß nicht zu konkret werden! Denn wenn „es“ dann doch klappt, setzen wir uns für den nächsten Lauf unter günstigen Bedingungen unter Druck.

Wie bügeln wir das ab? Ganz einfach: eigentlich (!) wären wir noch fünf Minuten früher ins Ziel gekommen. Mindestens.
Doch Vorsicht! Man kann sich schnell in ein Gespinst aus Widersprüchen verstricken. Denn wenn beim nächsten Mal ein Hemmnis wegfällt, muss er sich etwas Neues einfallen lassen.
Virtuosen im Spiel des angekündigten Misserfolgs gehen daher mit unerwarteten Erfolgen souveräner um: Sie verkünden rechtzeitig, dass sie sich unter Erfolgszwang sehen. Der setzt sie unter Druck und macht – vielleicht – langsamer. Eine ganz befreiende Form des Druckes, oder?

Ganz wichtig: immer an die Möglichkeitsform denken. Gelobt sei der Konjunktiv! Könnten wir einen Erfinder identifizieren, wir müssten ihm ein Denkmal setzen.

Zum angekündigten Misserfolgt gehört das Publikum, das seine Rolle wie einstudiert spielt. Auf einen Satz wie „eigentlich bin ich ganz fit, aber die Strecke ist ja auch eine der schwersten“, nicken wir, die Umstehenden, reflexartig, um mit ernstem Gesicht vorsorglich Trost zu spenden.

Das liegt im eigenen Interesse. Weil unsere Schuhe drücken manchmal komisch drücken. Wenn sie es nicht täten, würden wir morgen auch Bestzeit gelaufen wären.

Paracelsus

Man hat mich gewarnt. Schon oft.
Du wirst langsamer, wenn du längere Strecken läufst. Und mit Kniebeugen machst du dir die Knie kaputt. Trinke zuviel Wasser, und du stirbst. Seilhüpfen verursacht Gelenkschäden. Laufen auf Asphalt sowieso.

Man hat mich gewarnt. Schon oft.
Du wirst langsamer, wenn du längere Strecken läufst. Und mit Kniebeugen machst du dir die Knie kaputt. Trinke zuviel Wasser, und du stirbst. Seilhüpfen verursacht Gelenkschäden. Laufen auf Asphalt sowieso.

Lieber lesender Läufling, kommen dir solche Warnungen bekannt vor? Meistens hören wir sie mit einem wohlmeinenden Unterton, der uns sagt „ich will ja nur dein Bestes“.
Wir müssten längst tot sein, wenigstens stark eingeschränkt in unserer Mobilität. Humpelnd. Japsend. Sind wir aber nicht. Weshalb nur?

Werden wir tatsächlich langsamer, wenn wir Langstrecken laufen? Das klingt, als würde uns ein Schicksalsschlag treffen, kaum dass wir eine Linie überschreiten, die irgendwo im fernen Nebel der Distanz verborgen liegt. Zwanzig Kilometer? Fünfzig? Niemand weiss, wo die Grenze liegt, aber eines ist klar: ein einziger Schritt zuviel, und unser Tempo ist dahin.

Kaum zu fassen.

Diese Geschichte mit dem Wasser, sie funktioniert im Prinzip schon, vorausgesetzt, man schafft es, innerhalb kurzer Zeit riesige Mengen zu sich zu nehmen. Mehrere Liter in ein, zwei Stunden. Das Wasser schwemmt dann sämtliche Nährstoffe, Salze und was der Körper sonst noch braucht aus ebenjenem. Darauf reagiert ein Körper ausgesprochen ungehalten.

Kann ich verstehen.

Zuviel hiervon, zuviel davon, dort eine Überdosis – und von anderem zuwenig.

Da kommt mir just eine historische Figur in den Sinn, mit beneidenswertem Namen: Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim.
Bekannter ist er unter dem Namen Paracelsus, was nicht ansatzweise so viel hermacht wie Philippus Theophrastus etc.
Wer einen solchen Namen trägt, braucht keinen Doktortitel. Allerdings eine sehr breite Visitenkarte.

Der gute Theo, der um 1500 als Arzt, Alchemist, Mystiker und Philosoph wirkte, schrieb in seinen Septem Defensiones folgenden Satz:

Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.

Auf einen einfachen Nenner gebracht: Die Dosis macht das Gift.

Klingt plausibel, oder?

Zuviel Asphalt mit unpassenden Schuhen ist sicher ungesund für die Gelenke.
Beim Wasser frage ich mich sowieso, wie es jemand hinkriegt, literweise Wasser in sich zu schütten. Bedarf es des Schließmuskeltrainings? Aber auch da ist es ja nicht das Wasser an sich, sondern zum Beispiel der Mineralstoffmangel. Hyponatriämie und so. Damit ist, wie man sieht, nicht mit zu spaßen.

Wenn ich nur Kilometer sammle, ohne ab und zu aufs Gas zu gehen, passt sich mein Körper dem an: ich werde langsam.
Die Wirkung des Giftes entsteht in dem Fall dadurch, dass kein Gegengift in Form von Tempoträning verabreicht wird. Ich kenn‘ das, kaum ist die erste Ultrasaison vorbei, gibt es nur noch lange Läufe im Komfortzonentempo. Und weil das so schön gemütlich ist, behält der Läufling das Tempo bei kürzeren Strecken bei.

Schon hat man ein Universaltempo für alles.

Es orientiert sich am längsten, mithin langsamsten Lauf.

Zuviel Langsamkeit ist Gift für die Grundschnelligkeit.

Überdosis.

Allein die Dosis machts, das ein Gift kein Gift sei.

Diese Erkenntnis hatte Paracelsus schon vor knapp fünfhundert Jahren.

Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim.

Wer mehr über und von Paracelsus lesen möchte:
Paracelsus
Septem Defensiones bei www.zeno.org

Fitforfunisierung

Flüsse und Bäche sind vom Eise befreit, und die kräftiger werdenden Sonnenstrahlen zeigen, dass es der Frühling diesmal ernst meint. Nicht nur Veronika stellt fest: der Lenz ist da.

Schon häufen sich Grillabende, der Nachbar grüßt über den Gartenzaun. Es ist die Zeit kurz vor Pfingsten, in der die Welt endgültig aus dem Winterschlaf erwacht ist.

Manch Mitmensch bemerkt beim Anblick seines Körpers erschreckt, dass ihn ein schlaff hängendes Körperteil verunziert. Damit meine ich nicht jenes Teil, dessen baumelnde Unwürdigkeit die Generation Sechzig-Plus mit blauen Pillen zu beheben trachtet, sondern den größer gewordenen Bauch.

In diesem Moment betritt das geschätzte Lebensabschnittsgegenstück den Raum: „Du warst auch schon schlanker“. Wobei besagtem Gegenstück die unterbewegt-überernährte Lebensweise ebenfalls anzusehen ist.

Und der Urlaub ist schon gebucht, es dräut die Blamage am Strand.

Was nun?

Guter Rat is ausnahmsweise mal billig, denn Magazine wie Fit for Fun oder Men’s Health (bzw. das Pendant Women’s Health) bieten pünktlich zum Beginn der Reisesäsong Tipps zur Selbstverschlankung.

Die jeweiligen Ausgaben erkennt man am waschbrettbebauchten Model auf der Titelseite, die Schlagzeile verspricht den perfekten „Beach-Body in nur 6 Wochen“.

Nun gut, sagt sich Moppelchen, während er neugierig zum Artikel blättert, aber muss ich dazu viel Sport treiben? Ein angstvoller Gedanke, von dem ihn die Einleitung befreit, denn sie suggeriert: auch Sportmuffel können aussehen wie Zehnkämpfer! Von Null auf knackig in sechs Wochen.

Das funktioniert sogar!

Was tut nämlich ein Mensch, der sich nicht anstrengen will, sondern nur so aussehen, als ob?
Zunächst erwirbt er das Fachmagazin zum Studium des Sechswochenplans.

Derartige Pläne setzen sich meistens aus zwei Komponenten zusammen, nämlich einer strikten Diät, und einem Sportanteil, der auf trendige „Workouts“ setzt.
Nun behaupte ich, dass die Zielgruppe, sonst jeglicher sportlichen Betätigung genauso abhold wie dem Verzicht auf Chips, Bier und dergleichen Leckereien, hinreichend motiviert ist, um den Lebensstil während eines überschaubaren Zeitraumes zu ändern. Kurzfristig, wie gesagt.

Mit leicht erhöhtem Energieumsatz durch ein bisschen Sport wird eine Diät schnell Wirkung zeigen.

Und wie jeder weiss, machen gerade Untränierte sehr leicht Fortschritte im Sport. Vor allem dann, wenn „hart“ träniert wird.

Ein Ansatz, der im Gegensatz zu sämtlichen Träningsratgebern steht. Mit warnend erhobenem Zeigefinger wird der Sportler ermahnt, sachte zu steigern.
Wegen der Anpassungsprozesse.
Weil Sehnen und Knochen länger brauchen als Muskeln
Und die länger als das Hirn.
Sonst drohen langfristig fürchterliche Schäden.

Nur: wen kümmert die lange Sicht, wenn der perfekte Beach Body in sechs Wochen fertig ist?

Nutzen abgreifen, ohne die Risiken in Kauf nehmen zu müssen.

Nach eineinhalb Monaten Selbstdisziplin stellt der Nichtsportler hocherfreut seine bessere Leistung fest, Lebensabschnittspartner attestieren bessere Figur, und der Gang zur Waage macht weniger Angst.

Was optisch zum Coverboy (oder Girl) fehlt, kann man sich schönreden. Man ist „Fit for Strand“.

Nach dem Urlaub gibt es dann keinen Anlass zur Bewegung mehr. Bier, Chips & Co schmecken wieder, und die Couch ist sowieso bequemer als das Studio.
Der Körper tut, was ihm die Natur eingibt: er bildet Rücklagen für schlechte Zeiten.

Sie brechen unweigerlich im Folgejahr herein, kurz vor Beginn der Reisezeit.
Der fitforfunisierte Mensch erblickt seine Leibesfülle, wird unzufrieden und greift zum Lifestylemagazin. Es versichert, er müsse sich nicht ganzjährig schinden, um einmal im Jahr den Anschein zu erwecken, er täte es.

Fitforfunisierung. Alle Jahre wieder.