Über die Pflichtausrüstung

Ende August, irgendwo im Mont-Blanc-Massiv, irgendwann mitten in der Nacht. Es ist mit rund 5 Grad lausig kalt und diesig. Schneeregen und Wind verleihen dem Wetter das Prädikat “usselig”, wie der Kölner es ausdrücken würde. Mit Regenhose und Poncho über den Laufklamotten ist mir zumindest warm. Im Rucksack wartet ein trockenes Laufleibchen vergeblich darauf, dass es noch kälter wird. Gut zu wissen, dass ich im Falle des Falles noch nachlegen könnte.
Wir springen in der Zeit drei Tage zurück. In herrlichem Sonnenschein warte ich mit etlichen anderen Läuflingen bei der Startnummernausgabe des UTMB darauf, dass man unsere Pflichtausrüstung kontrolliert.

Pflichtausrüstung ist bei Ultra-Trails üblich. Pflichtausrüstung. Pflicht! Ich kann es auf den Tod nicht leiden, wenn man mir Vorschriften macht. Vor allem dann, wenn die Ausrüstungsliste (nur) das enthält, was ich sowieso mitnehmen würde. Weshalb muss das denn Pflicht sein? Und dann wird sie auch noch kontrolliert! Das gibt mir ein déjà-vu, schließlich war ich beim Bund. Hamse jedient? Jawoll! Und jetzt wollen wildfremde Menschen schon wieder einen Blick in mein Allerheiligstes werfen? Als wüsste ich nicht selbst, was ich brauche. O warum nur, warum?

Tja, wieso gibt es diese Pflichtausrüstung? Ich wortklaube, zerlege das Wort in seine Bestandteile, das hilft mir meist bei der Suche nach Erkenntnis. Ich grübele über “Ausrüstung”. Und über die “Pflicht”, sie mitzunehmen. Grobe Pflichtverletzungen werden ja bekanntlich sanktioniert mit Fegefeuer und Startverbot.

Die Frage, mit der ich mich dem Thema “Ausrüstung” annähern will, stelle ich mir im Kontext dieser Situation:
Ich gedenke, mich im Gebirge sehr, sehr lange zu bewegen. Sagen wir, über eine Distanz von hundert Kilometern. Ich werde auch bei Nacht unterwegs sein.

Was nehme ich mit?

Mir fallen die Survival-Ratgeber wieder ein, die ich als Teenie verschlungen habe. Gebirge, das heisst, es kann kalt werden, das Wetter kann schnell umschlagen. Ich kann mich verletzen, und muss vielleicht auf Hilfe warten.
Nein, das ist kein City-Marathon, wo sich im schlimmsten Fall zwanzig Zuschauer um mich kümmern. Bei Trails wie dem Ultra Trail du Mont Blanc liegen die Verpflegungsstellen rund zehn Kilometer auseinander, teilweise mehr. Auch wenn Rettung naht: es kann dauern, bis sie nah genug ist.

Was nehme ich mit?

Nachts wird es bekanntlich dunkel. Mit leeren Batterien macht die Sache wenig Freude. Noch weniger, wenn der Weg schlecht und holprig ist. Soll in den Bergen ja vorkommen. Also Lampe und Ersatzbatterien.
Was haben wir bisher in der Bilanz möglicher Unannehmlichkeiten? Scheißwetter, ziemlich weit weg vom Schuss, Wege bieten die Chance auf Umknkicken, Abstürzen, und dergleichen mehr. Ich könnte Hunger haben. Der Abstand zwischen zwei Verpflegungspunkten kann sich ziehen. Und wo ich schonmal dabei bin, gleich ein Erste-Hilfe-Set; das Fußplege-Kit ist sowieso dabei.
Im Notfall jemanden anrufen, das wär’s natürlich! Gesegnet sei der Mobilfunk. Einschließlich geeigneter Nummer. Nein, nicht die von Tante Elsa, mit der sich so trefflich plaudern lässt. Hoffentlich gibt’s Netz da oben. Und wenn nicht? Trillerpfeife. Man weiss ja nie.

Ach ja, das Wetter. Soll im Gebirge zickiger sein als jede Tussi. Warme Klamotten wiegen fast nix, und dann noch was gegen Regen.

Also nochmal: Was nehme ich mit?
In meinen Rucksack packe ich all das, was mir der angewandte gesunde Menschenverstand eingibt. Am Ende steht eine Liste, die sich kaum von dem unterscheidet, was im Reglement unter “Pflichtausrüstung” aufgeführt ist.

Von der Kür gelangen wir zur Pflicht. Wieso sagt man den Teilnehmern nicht, worauf sie sich einlassen, um dann eine Ausrüstungsempfehlung zu geben? Wenn dann jemand meint, er müsste unbedingt in kurzen Hosen und Singlet nächtens von Pass zu Pass springen, mag er das gerne tun. Auf eigenes Risiko. In dieser Hinsicht bin ich bekennender Darwinist.

Die Krux scheint mir darin zu liegen, dass Veranstalter von der öffentlichen Meinung abhängig sind. Falls etwas passieren sollte, liegt die Schuld nicht bei dem Vollpfosten ohne vernünftige Ausrüstung, sondern wir dürften Schlagzeilen erwarten in der Art von “wieder Katastrophe bei einem Berglauf”. Dann kommt unweigerlich jemand darauf, dass “Ultra” weiter ist als ein Marathon. Und schon der ist ja eine ganz extreme Sache. Mithin ist Ultra per se Wahnsinn. Noch dazu in den Bergen.
Schuld hat natürlich wer? Genau, der Veranstalter. Weil er den Teilnehmern keinen beheizten Ruheraum hinterherträgt. Oder weil er zulässt, dass diese Wahnsinnigen ihren Wahnsinn betreiben. Und, vor allem, weil er der Veranstalter ist. Auf Eigenverantwortung hinzuweisen, ist ja leider aus der Mode gekommen.

Ich gebe es ungern, und nur protestierend mit den Zähnen knirschend, zu: ich kann den Zwang, bestimmte Dinge mit sich herumzutragen, nachvollziehen. Auch die Kontrollen.
Nun ist jedes System höchstens so gut, wie das System, welches es schlägt. Deshalb wird es Leute geben, die viel Überlegung dareinstecken, wie sie einen Teil ihrer Pflichtausrüstung zur Nichtausrüstung machen können. Wenn es dann unterwegs kalt und usselig wird, wenn Hunger und Kälte nagen, wenn gar die körperliche Unversehrtheit gefährdet ist: selbst schuld. Der Veranstalter kann auf sein Reglement verweisen und ist zumindest halbwegs aus dem Schneider.

Pflichtausrüstung? Angewandter gesunder Menschenverstand. Über einzelne Positionen lässt sich diskutieren. Die Sache mit dem Zwang aber…
Ich fürchte, der ist nicht für uns Läuflinge gedacht (auch nicht für die ohne Ausrüstung). Sondern für die Medien konsumierenden Sportmuffel. Ich höre mich wieder knirschen.

Portrait HoneyBadgers

Honey Badgers
UTMB 2012
Honey Badgers
(v.l.n.r.: Francisco, Greg, Phil, ich, Ray, Patrick, Tim)

“We’re Honey Badgers. We don’t give a shit.” bekam ich zur Antwort, als ich vor dem Start zum Ultra Trail du Mont Blanc, eine Gruppe von Leuten mit seltsamem Logo auf dem Shirt fragte, welch komische Vögel sie denn seien.
Honey Badgers also. Gekennzeichnet durch die Eigenschaft – wie übersetzt man das am besten?, dass ihnen alles dort vorbei geht, wo wir Läuflinge gut tränierte Muskeln haben.

Wer oder was sind also die Honey Badger?

Dazu fragen wir uns zunächst: was ist ein Honey Badger? Dabei handelt es sich um den Honigdachs. Hinter dem gemütlich klingenden Namen verbirgt sich ein überaus robustes, furchtloses Vieh in Dachsgröße, auf dessen Speisekarte sogar Kobras stehen. Auf youtube finden sich beeindruckende Videos von der Nahrungsaufnahme.
Und hier schließt sich der Kreis, denn die Gründung der Honey Badger vollzog sich, als Ultraläufer bei einem gemütlichen Frühstück in Leadville, Colorado (USA) mit diesem Tier verglichen wurden.
Ich zähle die uns zugeschriebenen Eigenschaften gerne auf, es ist einfach zu schön. Lasst es euch auf der Zunge zergehen.
Ultraläuflinge und der Honigdachs ähneln sich, denn beide sind: tough, mutig, stark, furchtlos, unermüdlich, intelligent (!), sie essen alles, und, vor allem: ihnen geht alles am A… vorbei. Das arme unfähige Tierchen kann einem direkt Leid tun, denn wir wissen natürlich, das Ultraläuflinge obendrein süß, sexy, unwiderstehlich, charmant, wasserdicht, … und bescheiden sind.
Jedenfalls fand das Frühstück statt im Jahre 2011.

Zwischenzeitlich, wir schreiben das Jahr 2012, war aus der Frühstücksrunde ein lockerer Haufen von vielleicht zehn, zwanzig Ultraläuflingen geworden, zu welchen sich die Support Crew addiert. Sie treffen sich zu Läufen – wie eben dem UTMB dieses Jahr, besuchen und unterstützen sich gegenseitig. Gastfreundschaft wird bei den Honey Badgern groß geschrieben. Platz vorausgesetzt, wird man Honey Badger doch nicht den Unannehmlichkeiten eines Hotels aussetzen. Viel besser ist es doch, bei Freunden zu übernachten.

Die Gründungsgeschichte bringt es mit sich, dass Honey Badger hauptsächlich Amerikaner aus verschiedenen Staaten der USA sind. Zum harten Kern, den ich in Chamonix traf zählen unter anderem Tim und Ray aus Colorado, Curt aus Ohio, Phil aus Tennessee, Greg (Arizona), und Francisco aus Texas. Zwischenzeitlich waren, auch europäische Marathonis hinzugekommen. Seit dem UTMB ist der erste europäische Ultraläufling dabei: ich.

Insofern könnte der Slogan modifiziert werden: “HoneyBadgers. Not giving shit worldwide. Since 2012.”

Honey Badger
Honey Badger...

Honey Badger
Honey Badger
Edition UTMB 2012

Honey Badgers click here for the English version.

UTMB 2012

Seit dem UTMB können Eskimos mir mit ihren 20 Begriffen für Schnee nicht mehr imponieren. Ich kenne mindestens genauso viele Arten von Matsch. Da gibt es beispielsweise den rutschigen Matsch, den flüssigen Matsch, halbflüssig oder zäh tropfend. Dann Matsch, der an den Schuhen zieht, und den, der an ihnen festhängt, um Stöckelschuhe zu bilden. Wir finden bröckelingen Schlamm, und solchen, der von Pflanzenfasern durchsetzt ist. Kalter Glibber zeichnet sich durch ein symbiotisches Verhältnis zu Schneematsch aus, von dem er sich durch einen höheren Erdanteil unterscheidet. Außerdem hätten wir noch den Typ “aufgeweichte Wiese”. Genauso rutschig, nur dreckiger.

Ein paar Tage zuvor hatte sich das Wetter noch von seiner besten Seite gezeigt: Blauer Himmel, Sonnenschein, mit maximal 20 Grad genau richtig, um ihn zu genießen. Ihn, den Zauber der Berge, wie Luis Trenker es formuliert haben würde. Vielleicht hat er ja auch. Traumhaftes Wetter, jedenfalls bis es sich zwei Tage vor dem Start zusehends verschlechterte. Am Renntag zwang strömender Regen den Veranstalter, die Strecke auf 104 km zu verkürzen. Wobei der Grund hierfür wohl weniger an dessen Mitleid mit uns armen Läuflingen lag, sondern schlicht darin, dass es die Bedingungen auf den Pässen in rund 2500 m Höhe aus Sicherheitsgründen nicht zuließen, die Teilnehmer drüber zu schicken. Bis zu 50 cm Neuschnee, Temperaturen um 0°C und heftiger Wind sprachen eine deutliche Sprache. Aber auch die Alternativroute hatte es in sich. Es regnete die ganze Nacht und den größten Teil des nächsten Tages, viel wärmer als geschätzte 5° wird es nicht gewesen sein. Anders formuliert: ungemütlich. Sehr ungemütlich. Ungemütlich genug, um vier (vier!) Kleidungsschichten vorzuschreiben.

Die meteorologischen Bedingungen hatten eine interessante Auswirkung auf des Läuflings Psyche. Jedenfalls auf meine. Schien es zunächst, als würden die Temperaturen tagsüber noch halbwegs warm, nahm ich dies zum Anlass, eine neue Dreivierteltight zu erstehen. So ziemlich das einzige Kleidungsstück, das ich nicht dabei hatte. Eine neue, superleichte Regenjacke spendierte ich mir obendrein. Und am Renntag selbst noch eine Pelerine, angeblich atmungsaktiv, die auch meinen Rucksack trocken halten sollte. Nur unter Aufbietung meiner gesamten, ultragestählten Willenskraft gelang es mir, den sonstigen Verlockungen auf der Expo zu widerstehen. Ein Ansinnen, bei dem mir Autosuggestion ungemein half. Ich sagte permanent mein neues Mantra vor mich hin, welches da lautet “equipment alone won’t bring me home”.

Hatte ich schon irgendwo erwähnt, dass ich gerne bei ungemütlichem Wetter laufe? Nein? Hübsch eingepackt in Funktionsklamotten trabe ich frisch meines Weges, hoch erfreut über kühle Temperaturen. Wisst ihr, dass ich kein Hitzeläufer bin? Einzig die Begleiterscheinung “Matsch” vermag die Freude etwas zu trüben. Siehe erster Absatz. Außerdem waren nicht nur die Wetteraussichten, sondern auch die Aussicht eingeschränkt, denn viel zu sehen gab es infolge der Wolken und der hereinbrechenden Nacht nicht. Dafür hatten wir Gelegenheit, uns an den Verpflegungsstellen reichlich zu laben. Mein persönliches Highlight hatte ich in La Balme, wo ich irgendwann des Nachts einen Kaffee begehrte. Ganz grob der Kontext: es war Nacht, dunkel, kalt, Regen, müde, Wind. Und dann bekomme ich nicht nur Kaffee mit Zucker in meine hingehaltene Tasse geschenkt, eine nette Dame rührte sogar für mich um! Das wärmte Leib und Seele!

A propos Wärme, Softshell-Handschuhe sollen ja das Wasser abweisen, mithin auch bei Nässe wärmen. Ich durfte dies im Selbstversuch prüfen. Ein, zwei Stunden mögen sie die Nässe draußen halten, nach vielleicht sechs Stunden sind die Teile komplett durchweicht, und ich bekam kalte Finger. Insofern ist es sinnvoll, wenn die Ausrüstungsliste wasserdichte Handschuhe beinhaltet. Die Spülhandschuhe brauchte ich letztlich nicht herauskramen, lange Ärmel des Ponchos halfen auch. Trotzdem eine sehr aufschlussreiche Erfahrung, genau wie das Laufen in Nacht und Wolke nebst erquickender Kombination aus Niesel, Schnee- und richtigem Regen mit Stirnlampe. Ähnlich freudvoll als würde man mit Fernlicht im Nebel fahren. Es bleibt entweder eine sehr devoter Blick kurz vor die Füße, oder langsames Verrücktwerden ob des Anblicks von wirrweißen Strichen auf dunkelgrauem Grund.

Ach ja, bevor ich es völlig vergesse: irgendwann später – es wurde schon wieder dunkel – kam ich ins Ziel. Und das verlangt nach einer Antwort auf die Frage, die mir seither schon oft gestellt wurde. Sinngemäß lautet sie “bist du jetzt stolz, weil du ankamst – oder enttäuscht, weil es nur 104 km waren?”.
Diese beiden Stimmen sind es in der Tat, die mir im Kopf herumspuken. Klar bin ich stolz, dass ich jetzt “auch” mit der Angeberweste des offiziellen UTMB Finishers umherlaufen darf. Ich freue mich, dass ich an einem wunderschönen Lauf in einer herrlichen Gegend teilnahm, und natürlich spielen auch die Bedingungen eine Rolle, denn bei schönem Wetter kann ja jeder….
Dem entgegen steht die kürzere Strecke: 64 km und 3500 Höhenmeter, vor allem eine weitere Nacht waren gerade die neue Herausforderung, um derentwillen ich nach Chamonix gereist war. Kurzum, es war hart, es war toll, ich bin froh und stolz. Und ich fahre nochmal hin!