Seit dem UTMB können Eskimos mir mit ihren 20 Begriffen für Schnee nicht mehr imponieren. Ich kenne mindestens genauso viele Arten von Matsch. Da gibt es beispielsweise den rutschigen Matsch, den flüssigen Matsch, halbflüssig oder zäh tropfend. Dann Matsch, der an den Schuhen zieht, und den, der an ihnen festhängt, um Stöckelschuhe zu bilden. Wir finden bröckelingen Schlamm, und solchen, der von Pflanzenfasern durchsetzt ist. Kalter Glibber zeichnet sich durch ein symbiotisches Verhältnis zu Schneematsch aus, von dem er sich durch einen höheren Erdanteil unterscheidet. Außerdem hätten wir noch den Typ „aufgeweichte Wiese“. Genauso rutschig, nur dreckiger.
Ein paar Tage zuvor hatte sich das Wetter noch von seiner besten Seite gezeigt: Blauer Himmel, Sonnenschein, mit maximal 20 Grad genau richtig, um ihn zu genießen. Ihn, den Zauber der Berge, wie Luis Trenker es formuliert haben würde. Vielleicht hat er ja auch. Traumhaftes Wetter, jedenfalls bis es sich zwei Tage vor dem Start zusehends verschlechterte. Am Renntag zwang strömender Regen den Veranstalter, die Strecke auf 104 km zu verkürzen. Wobei der Grund hierfür wohl weniger an dessen Mitleid mit uns armen Läuflingen lag, sondern schlicht darin, dass es die Bedingungen auf den Pässen in rund 2500 m Höhe aus Sicherheitsgründen nicht zuließen, die Teilnehmer drüber zu schicken. Bis zu 50 cm Neuschnee, Temperaturen um 0°C und heftiger Wind sprachen eine deutliche Sprache. Aber auch die Alternativroute hatte es in sich. Es regnete die ganze Nacht und den größten Teil des nächsten Tages, viel wärmer als geschätzte 5° wird es nicht gewesen sein. Anders formuliert: ungemütlich. Sehr ungemütlich. Ungemütlich genug, um vier (vier!) Kleidungsschichten vorzuschreiben.
Die meteorologischen Bedingungen hatten eine interessante Auswirkung auf des Läuflings Psyche. Jedenfalls auf meine. Schien es zunächst, als würden die Temperaturen tagsüber noch halbwegs warm, nahm ich dies zum Anlass, eine neue Dreivierteltight zu erstehen. So ziemlich das einzige Kleidungsstück, das ich nicht dabei hatte. Eine neue, superleichte Regenjacke spendierte ich mir obendrein. Und am Renntag selbst noch eine Pelerine, angeblich atmungsaktiv, die auch meinen Rucksack trocken halten sollte. Nur unter Aufbietung meiner gesamten, ultragestählten Willenskraft gelang es mir, den sonstigen Verlockungen auf der Expo zu widerstehen. Ein Ansinnen, bei dem mir Autosuggestion ungemein half. Ich sagte permanent mein neues Mantra vor mich hin, welches da lautet „equipment alone won’t bring me home“.
Hatte ich schon irgendwo erwähnt, dass ich gerne bei ungemütlichem Wetter laufe? Nein? Hübsch eingepackt in Funktionsklamotten trabe ich frisch meines Weges, hoch erfreut über kühle Temperaturen. Wisst ihr, dass ich kein Hitzeläufer bin? Einzig die Begleiterscheinung „Matsch“ vermag die Freude etwas zu trüben. Siehe erster Absatz. Außerdem waren nicht nur die Wetteraussichten, sondern auch die Aussicht eingeschränkt, denn viel zu sehen gab es infolge der Wolken und der hereinbrechenden Nacht nicht. Dafür hatten wir Gelegenheit, uns an den Verpflegungsstellen reichlich zu laben. Mein persönliches Highlight hatte ich in La Balme, wo ich irgendwann des Nachts einen Kaffee begehrte. Ganz grob der Kontext: es war Nacht, dunkel, kalt, Regen, müde, Wind. Und dann bekomme ich nicht nur Kaffee mit Zucker in meine hingehaltene Tasse geschenkt, eine nette Dame rührte sogar für mich um! Das wärmte Leib und Seele!
A propos Wärme, Softshell-Handschuhe sollen ja das Wasser abweisen, mithin auch bei Nässe wärmen. Ich durfte dies im Selbstversuch prüfen. Ein, zwei Stunden mögen sie die Nässe draußen halten, nach vielleicht sechs Stunden sind die Teile komplett durchweicht, und ich bekam kalte Finger. Insofern ist es sinnvoll, wenn die Ausrüstungsliste wasserdichte Handschuhe beinhaltet. Die Spülhandschuhe brauchte ich letztlich nicht herauskramen, lange Ärmel des Ponchos halfen auch. Trotzdem eine sehr aufschlussreiche Erfahrung, genau wie das Laufen in Nacht und Wolke nebst erquickender Kombination aus Niesel, Schnee- und richtigem Regen mit Stirnlampe. Ähnlich freudvoll als würde man mit Fernlicht im Nebel fahren. Es bleibt entweder eine sehr devoter Blick kurz vor die Füße, oder langsames Verrücktwerden ob des Anblicks von wirrweißen Strichen auf dunkelgrauem Grund.
Ach ja, bevor ich es völlig vergesse: irgendwann später – es wurde schon wieder dunkel – kam ich ins Ziel. Und das verlangt nach einer Antwort auf die Frage, die mir seither schon oft gestellt wurde. Sinngemäß lautet sie „bist du jetzt stolz, weil du ankamst – oder enttäuscht, weil es nur 104 km waren?“.
Diese beiden Stimmen sind es in der Tat, die mir im Kopf herumspuken. Klar bin ich stolz, dass ich jetzt „auch“ mit der Angeberweste des offiziellen UTMB Finishers umherlaufen darf. Ich freue mich, dass ich an einem wunderschönen Lauf in einer herrlichen Gegend teilnahm, und natürlich spielen auch die Bedingungen eine Rolle, denn bei schönem Wetter kann ja jeder….
Dem entgegen steht die kürzere Strecke: 64 km und 3500 Höhenmeter, vor allem eine weitere Nacht waren gerade die neue Herausforderung, um derentwillen ich nach Chamonix gereist war. Kurzum, es war hart, es war toll, ich bin froh und stolz. Und ich fahre nochmal hin!