Früher war alles weniger. Vielleicht mehr Lametta, aber, global gesehen, insgesamt weniger. Wenn man ein neues Laufshirt kaufte, bekam man, nun, eben ein Shirt. Ohne Optionen. Und weil das alle so taten, entstand bei den Herstellern der Druck, besser oder wenigstens anders zu erscheinen als die anderen. Wie soll man sich von der Konkurrenz abheben? Mit einer netten Dreingabe vielleicht?
Als ich jüngst ein neues Laufleibchen erwarb, lag diesem ein Buch bei! Gut, es war kein vornehmer, in Schweinsleder gebundener Foliant, nichmal Hardcover. Wenn ich es recht bedenke, hatte das Buch überhaupt keinen Einband. Aber ich will nicht unken, als Leseratte freue ich mich über ein nettes, achtseitiges Buch.
Es ist ein überaus lehrreiches Werk, welches man mir mitgab, denn ich weiss zum Beispiel, dass besagtes Leibchen komplett aus Polyester hergestellt wurde. Das erfreut mich, denn ich will weder mit irgendeinem Bastard aus Polyester und Elastan, noch mit irgend so einem Plastikkram herumlaufen. Stattdessen: einhundert Prozent feinstes Polyester! So beruhigt, bleibt die sogenannte „Kaufreue“ aus. Ein kluger Schachzug des Herstellers.
Des Weiteren gibt man mir Ratschläge, wie das Shirt denn zu waschen und zu pflegen sei. Ich soll es bei dreißig Grad Celsius waschen, nur auf Weichspüler muss ich verzichten. Das ist schade, denn ich mag gerne weiche Klamotten an meinem zarten Leib. Zum Ausgleich zeigt der Produzent sein Herz für jene Läuflinge, die lieber laufen als waschen, denn Maschinenwäsche ist vollkommen in Ordnung. Sagt das Symbol. Wenn ich es eilig habe, kann ich sogar schleudern, und in den Trockner darf es auch. Toughes Teil, das muss an dieser Stelle mal gesagt werden!
Chemische Reinigung geht gar nicht, dafür ist es gestattet, mit dem Bügeleisen bei niedriger Temperatur etwaige Knitterfalten sanft zu glätten. Auch daran sehe ich, dass sich die Produktplaner intensiv mit den Bedürfnissen ihrer Kunden beschäftigt haben. Denn natürlich will kein Läufling ungebügelt durchs Ziel. Mir ist das nicht so wichtig, aber es ist doch schön, zu wissen, dass ich Bügeln könnte, wenn ich denn wollte.
Ein großes Manko des Werkes besteht meiner Ansicht nach darin, dass die Autoren sich nur unvollständig über die Art der Trocknung äußern. Sie sprechen zwar den Wäschetrockner an, aber was ist mit anderen Trockenarten? Kann ich es auf die Leine hängen oder muss es liegen? Wie ist es mit Sonne: darf ich mein Leibchen in der Sonne trocknen? Ich nehme zwar an, dass mir alle Möglichkeiten offen stehen, trotzdem wäre mir irgend eine Information dazu willkommen. Meinetwegen kann man ja ein Symbol anfügen, welches sagt „mach es, wie du es für richtig hältest, dem Produkt ist das egal“.
Hatte ich überhaupt erwähnt, dass diese Pflegeanleitung nicht in Textform, sondern in einer schönen, leicht zu entschlüsselnden Symbolsprache abgefasst ist?
Nun, jetzt wisst ihr es.
Und jetzt kommt das Beste: das Buch leistet einen Beitrag zur Volksbildung, denn es ist mehrsprachig verfasst! Sämtliche Angaben kann ich auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch nachlesen. Ich weiss jetzt, was Polyester auf Japanisch bedeutet, und kann „Made in China“ in kyrillischen Buchstaben schreiben.
Wer weiss, wofür es gut ist. Vielleicht komme ich bei einem Ultratrail mal mit einem Malaien ins Gespräch, und irgendwann geht uns das Thema aus. Betretenes Schweigen. Unangenehm für beide. Bis uns einfällt, Waschtipps in seiner Muttersprache Bahasa Malayu auszutauschen: „Bügelst du deine Armlinge?“ „Ja, wenn ich sie nicht im Trockner hatte.“ „Sei aber vorsichtig mit der Temperatur. Ich kann meine nur relativ kühl glätten.“
Bei einer solchen Fülle an Wissen ist es jammerschade, dass das Buch nicht in einer Form beiliegt, die es mir gestatten würde, es gemeinsam mit anderen Werken industrieller Prosa in ein Regal zu stellen. Denn das Buch ist am Shirt angenäht. Sehr gut angenäht. Ich meine keine Fadenheftung, sondern ich rede davon, dass es mit der Seitennaht in Taillenhöhe vernäht ist.
Und das bedeutet, ich muss es entfernen. Einerseits aus Gewichtsgründen, denn bei einem luftig-leichten Shirt fällt ein mehrseitiges Buch ins Gewicht. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Außerdem piekst es.
Manche Hersteller setzen auf gewebeverstärktes Papier, was sich zwar für ein Buch ziemt, dafür aber die Haut peinigt. Mein spezielles Leibchen zählt zu den Premiumprodukten, und hat folglich ein Buch aus Stoff, dessen raue Kanten unangenehm reiben. Also weg damit, ich will schließlich nicht leiden.
Dieses „weg damit“ ist leichter gesagt, als getan, denn das Buch wurde in der Fabrik mit der Seitennaht sehr sorgsam befestigt. Ergo kostet es mich das Entfernen einige Mühe. Wenn ich die Hauptnaht nicht beschädigen will, schneide ich zunächst das Buch entlang der Naht ab. Es bleibt ein rechteckiger Rest in und unter der Naht. Weil ein Rechteck naturgemäß Ecken hat, pieksen diese ebenfalls. Somit geht der Griff zur Nagelschere, um die Ecken abzuschrägen. Immer mit der unter allen Umständen zu schützenden Naht im Hinterkopf. Nur keinen Faden durchschneiden! Nach getaner Arbeit stelle ich fest, dass ich aus vier Ecken nunmehr derer acht gemacht habe. Weniger spitz, aber immer noch fühlbar. Also versuche ich, eine Rundung hinzukriegen. Eine halbe Stunde und zwei, drei mittelschwere Tobsuchtsanfälle später habe ich ein wunderbares Laufshirt.
Fertig. Zeit für erbauliche Lektüre.
Nachdem ich das herausgetrennte Buch ein paar Mal durchgelesen hatte, warf ich es schlussendlich weg. Nicht ohne ein schlechtes Gewissen, denn ich anerkenne die Mühe, die man sich gemacht hat. Ohne das Buch würde ich mein neues Leibchen einfach in die Waschmaschine geworfen haben, hätte diese auf 30° gestellt, und das Ding später zum Trocknen auf die Leine gehängt. Ohne das Buch könnte ich nicht mehrsprachig über Textilpflege parlieren. Ohne das Buch wäre mir nicht bewusst, welch globale Präsenz die Marke meines Vertrauens hat. So aber gehe ich sehr bewusst mit meiner Kleidung um. Ich glaube, ich könnte mich noch mehr mit ihr identifizieren, wenn man dem Beispiel von Woolpower folgen würde. Der schwedische Hersteller schreibt bei jedem Kleidungsstück den Namen der Näherin dazu, die es zusammengenäht hat. Und, übrigens: nennt bitte noch den Verfasser. Auch wenn es wohl nicht zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels reicht, selbst Autoren von Gebrauchsliteratur haben ein Recht auf Öffentlichkeit.
Zwischenzeitlich gibt es bei den meisten Marken Bücher, wenn man Laufkleidung kauft. Deshalb müssen sie sich etwas Neues einfallen lassen, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Wie wäre es zum Beispiel mit einem passenden Regal?