Was denkbar ist, ist auch möglich.

Motivationsseminar der ganz harten Sorte. Ich sehe ihn vor mir, den Träner: die Laune genauso blenden wie seine Zähne, dunkler Maßanzug, gegeltes Haar…. Ja, ich pflege meine Klischees! Es wird still im Saal, knisternde Spannung ist spürbar. Das Publikum fiebert einer Weisheit entgegen.

Motivationsseminar der ganz harten Sorte. Ich sehe ihn vor mir, den Träner: die Laune genauso blenden wie seine Zähne, dunkler Maßanzug, gegeltes Haar…. Ja, ich pflege meine Klischees!

Die Dramaturgie der Veranstaltung sieht vor, dass der sorgsam aufgebaute Spannungsbogen in einen einzigen Satz mündet. Ein Satz von universeller Weisheit, gültig für alle Zeiten. Die Spannung steigt im gleichen Maße, wie sich erwartungsvolle Stille über das Publikum senkt.
Dann wird er ausgesprochen. Er, der Satz: „was denkbar ist, ist auch möglich!„. Von Wittgenstein! Einem Giganten der Philosophie! Wenn der es sagt, muss es einfach stimmen!

Und schon spüre ich die Wirkung des Satzes.

Ich denke, ich laufe den Marathon unter drei Stunden.

Denke weiter, es ist möglich!

…zweizwanzig….achwas, 1:50!….halbe Stunde….in Nullkommanix!….ja, es ist möglich!….ich bin vor dem Start im Ziel!

Ich denke, also ist es möglich!

Ja, JA, JAAA, TSCHAKAAAAAAAAA………….!

Äh.

Nein.

Wie war das gleich wieder? „Wenn es denkbar ist, ist es auch möglich“.

Es ist ein Satz, der von jener Sorte Motivationsträner ge- beziehungsweise missbraucht wird, deren Platitüden jeder sofort und gerne zustimmt. Träner, deren Worte bei weiterem Nachdenken jedoch Tränen in rollende Augen treten lassen.

Wird ein einzelner Satz einfach so aus seinem Zusammenhang gerissen, um danach in einer Umgebung wieder aufzutauchen, die ihm nicht gerecht wird, kommt mir das wie Diebstahl vor. Als würde ein Diamant aus seiner Fassung gebrochen, weil man ihn so leichter verkaufen kann.

„Was denkbar ist, ist auch möglich“ lebt stattdessen von der Fassung in Form der ihn umgebenden Sätze, stellt man ihn einfach anderso vor, ist es ein banaler Satz. Eine leicht widerlegbare Behauptung, die nur deshalb im Seminar wirkt, weil so gerne das Zauberwort „Wittgenstein“ dazu genannt wird.

Der Satz ist von Wittgenstein, deswegen müsst ihr eurem Tränerguru glauben.

Ich hoffe, das Zerrbild fällt auf.

Zitate sind super, wenn sie auf Substanz hindeuten. Unser Satz ist oft nur eine von vielen Häuten einer Zwiebel. Zieht man eine Haut ab, gelangt man an die nächste. Und so weiter, bis am Ende feststeht, dass nichts da war außer Hülle.

Was hat das mit Laufen zu tun? Nichts. Noch nichts.

Wir kratzen weiter an der Oberfläche, bewegen wir uns doch ein Stück weiter zu einer Stelle, an der wir hoffen dürfen, mehr zu finden als – nichts.

Dazu bleiben wir bei Wittgenstein, ich erspare ihm nicht, auch von mir für meine Zwecke vereinnahmt zu werden. Wenigstens dient es mit der Kurzweil meiner Leserschaft einem guten Zweck.
Wittgenstein. Gutsituierter Industriellensohn, Architekt, Typograph, Philosoph. Vor allem Philosoph, der den berühmten Tractatus wenigstens teilweise im Schützengraben verfasste. Zu jener Zeit tobte gerade der erste Weltkrieg. Allzu sehr wird er nicht immer getobt haben, so dass Ludwig Zeit zum Schreiben blieb.

Im Tractatus, nein, ich bleibe kurz bei Wittgenstein selbst, weil ich den Typen ziemlich schräg finde. Erzählte er der Prüfungskommission bei der Doktorprüfung doch wohlwollend, sie würden seine Gedanken eh‘ nicht kapieren.
Und im Vorwort des Tractatus schreibt er, er habe sich nicht die Mühe gemacht, nachzuprüfen, ob seine Gedanken schon jemand anderes gehabt hatte. An die Adresse moderner Polit- und Prestigedoktörchen: Leute, ihr seid nicht Wittgenstein. Ihr müsst leider ordentlich zitieren!

„Ich muss ordentlich zitieren.“ Das schreibt ihr bis morgen hundert Mal. Mit Quellenangabe.

Nun steht im Tractatus also jener unschuldige Satz: „wenn man etwas denken kann, ist es auch möglich“. Aus dem Zusammenhang herausgeschält, mutterseelenalleine ohne die ihn stützenden, ihn ins rechte Licht setzenden Sätze gerät er leicht auf die eingangs erwähnten Abwege.

Lassen wir aber die Hilfe seiner Vorfahren zu, so kommen wir nicht umhin, seinen auf die Sprache eingeschränkten Geltungsbereich wahrzunehmen. Mit der „Möglichkeit“ meint Läuferfreund Ludwig nämlich, dass alles was irgendein „Ding“ tun oder sein kann, schon irgendwie in diesem Ding steckt. Als Möglichkeit.
Ein Laufshirt kann gebügelt oder zerknüllt sein, stinken oder nicht, am Körper getragen werden oder nicht. Undsoweiter.

Möglichkeiten eines Laufshirts.

Wird Wittgenstein mit „dem“ Satz zitiert, handelt es sich um Sprachphilosophie. Hat also mit dem Ansatz der Seminarbrangsche wenig zu tun.
Was fängt der gemeine Läufling jetzt damit an? Ich schlage vor, wir klauen den Satz aus dem Tractatus, so wie viele andere vor uns. Wir bleiben aber nicht dabei stehen, sondern nehmen noch ein paar andere Gedanken mit. Wo wir schon mal da sind….

Das solcherart erworbene Diebesgut packen wir in den Sack, auf dem jetzt nicht mehr „Sprachphilosophie“, sondern etwas wie „erkenne dich selbst“ steht. Oder „Potentialanalühse“, wenn wir uns fremdwortreich ausdrücken wollen. Bei den Dingen wissen wir, dass sie „Möglichkeiten“ haben. Weil ein Ding dumm ist, kennt es seine Möglichkeiten nicht, so wie wir das tun. Das heißt: Wie ist das mit unseren Möglichkeiten? Wir sollten, nein wir müssen sie kennen, damit wir sie nutzen können.

Schwupps, sind wir mittendrin im Motivationsthema!

Wenn ich meine Grenzen auslote, weiß ich, dass ich mich innerhalb dieser Grenzen, im Rahmen meiner Möglichkeiten, bewegen kann. Dann kann ich denken, dass es, was es auch immer ist, hinhaut.
Wortspiel am Rande: ich kann mir denken, dass das möglich ist. Alle möglichen (!) Zweifel kann ich mir sparen!

Marathon in Nullvierzig? Vergiss‘ es.

Marathon in…wasauchimmer? Freilich!

Ist das Mentaltraining? Vielleicht.

Hat es mit Zielfindung und dergleichen zu tun? Banales Zeug? Aber sicher!

Läuflingsfreund Ludwig, den ich zum Schluss wieder mißbrauche, könnte gesagt haben… nein, ich lege ihm keinen Satz in den Mund.

Wenn es möglich ist, kann man es auch denken. Und dann kann man es tun.

Parallelweltenbummelei

Sobald man sich aus dem Haus begibt – etwa, um zu laufen – ist man von Feindbildern umringt: Wanderer hassen Mountainbiker, diese wiederum Läufer, welche ihrerseits die Walker verachten. Heute muss ich in einer Parallelwelt unterwegs gewesen sein.

Begibt man sich heutzutage nach draußen, um der Bewegung an frischer Luft zu frönen, ist man unweigerlich gefährdet.
Eine sehr reale Gefahr, die, sofern man Medienberichten glauben darf, im direkten Kontakt mit Feinden besteht.

Obgleich kein eifriger Medienkonsument, brauche ich mich kaum anstrengen, um ad hoc eine Handvoll liebevoll aufgebauter Feindbilder zu erinnern. Selbst wenn nur ein Bruchteil davon zuträfe, herrschte in unseren Wäldern mehr Feindseligkeit als damals im Teutoburger Wald, als Arminius des Cäsars Legionen den Garaus machte.

Feinde, in trauter Gegnerschaft vereint.

Wanderer zum Beispiel hassen Mountainbiker. Die wiederum können Läuflinge nicht ausstehen, welche ihrerseits einen üblen Hass auf Nordische Walker verspüren. Wer nordisch walkt, tut dies mit einem furchtbaren Groll Spaziergängern gegenüber, und jene mögen Hunde nicht. Ihre Frau- und Herrchen noch weniger. Hundegassigänger hassen Forstarbeiter, die, und hier schließt sich der Kreis, Wanderer am liebsten an einem noch ungefällten Baum aufknüpfen würden.

Seltene Einigkeit herrscht Jägern gegenüber: alle hassen Jäger.

Das gehört sich so.

Ist politisch opportun.

Wobei Jäger zu ihrem Glück meist im Morgengrauen unterwegs sind, selten am Sonntag Nachmittag.

Davon abgesehen ist Krieg in der Natur.

Der Kriegssschauplatz „Wald“ zeichnet sich, so dürfen wir immer wieder lesen, durch zähnefletschendes Gegeneinander aller in ihm unterwegs seienden Gruppierungen aus. Lustige Wandersleut‘ machen sich einen Spaß daraus, einem jeden Mountainbiker den Wanderstab in die Speichen zu stecken. Es soll sogar schon Wettbewerbe für den schönsten Abflug geben, der Sieger darf sich eine Kerbe in den Stock schnitzen.
Der gemeine Bergradler hingegen prescht mit Vorliebe in dahinspazierende Gruppen hinein, und freut sich, weil diese so lustig beiseite spritzen.
Und wer würde einem Hundebesitzer verübeln, wenn er seinem vierbeinigen Liebling gestattet, sich ein Stück wohltränierten Läuflingshintern aus ebenjenem herauszubeißen. Frischer geht’s nicht, und es schont die Haushaltskasse.
Weil der betroffnene Läufling solch artgerechter Form hündischer Nahrungsaufnahme in der Regel wenig Sympathie entgegenbringt, folgt dem Biss ein Schrei. Dieser stört den Meditierenden bei seiner innigen Umarmung eines Baumes, wodurch auch dieser zu hassen beginnt.

Der Umarmende, nicht der Baum.

Dem Baum ist das egal.

Eine Spirale von Hass und Gewalt ist der medial transportierte Eindruck. Nun will ich die öffentliche Darstellung, noch weniger die ebensolche Meinung keineswegs der Hysterie bezichtigen, deshalb formuliere ich mit Bedacht: dieser Eindruck deckt sich nicht mit meinen Beobachtungen. Man mag mich vertrauensselig, gar naiv schelten, doch gehe ich meist unbewaffnet nach draußen.

Auch heute.

Ich begab mich auf eine Hrunde in den Hodenwald. Eigentlich war es eine schnöde Runde im Odenwald, ich wollte bloß nicht auf den Kalauer verzichten. „Hodenwald“, alles klar? Echter Schenkelklopfer! Schenkel klopfen lockert Verhärtungen. In den Beinmuskeln. „Verhärtungen“, noch so’n Ding. Wenn ich mich dem Niveau der Scherze annähern wollte, müsste ich graben.

Lassen wir das, zurück zum Geschehen.

Auf einem wunderschönen Single-Trail, den ich hinan lief, kamen mir zwei Bergradler entgegen. Langsam wie ich war, trat ich beiseite, um sie passieren zu lassen. „Danke“ klang mir entgegen, was ich mit einem freundlichen „Bitte“ vergolt. „Viel Spaß noch“ hörte ich vom zweiten Radler.
Kurz darauf war es an mir, „Danke“ zu sagen, als eine weitere Gruppe Mountainbiker angesichts meiner Nähe auf den Genuss eines Sprunghügels verzichtete – war recht eng für Akrobatik und Läufling.
Frohgemut lief ich weiter, begegnete einem Frauchen mit Hund. Ein hübscher Hund, groß und wuschelig, wie ich ihn mir an kalten Winterabenden als Fußwärmer vorstelle. Sie nahm den Winterhund beiseite, um das von mir lächelnd geäußerte „Hallo“ zu erwidern.

So verging manche Stund‘ im Walde mit Lächeln, Grüßen und Dänken. Keine Feinde, weder zu mir, noch untereinander. Von Feindbild keine Spur, nicht einmal das Bild eines Feindes.

Ich muss in einer Parallelwelt unterwegs gewesen sein.

Liebe Biotechnologen…

Die Biotechnologie bringt erstaunliche Dinge hervor: Mäuse mit Menschenohr auf dem Rücken, Klonschafe, oder Mais, der sich per SMS meldet, wenn er reif ist. Kinderkram. Kümmert euch doch bitte um wichtige Themen!

Ich bin wirklich verblüfft, was die Biotechnologie so hervorbringt.
Spontan kommt mir das Klonschaf Dolly von vor Jahrzehnten in den Sinn. Klasse Sache, so ein Schaf vom Fließband.
Und der Genmais. Wenn es bei Mais bleibt, denn ich nehme an, bei dieser Pflanze ist es besonders einfach, weshalb sie den Anfang macht. In ein paar Jahren kommt eine SMS vom Apfelbaum, weil er geerntet werden möchte.

War da nicht mal eine Maus, der ein menschliches Ohr am Rücken wächst? Manche Mütter behaupten ihren Sprösslingen gegenüber ja, sie hätten auch hinten Augen – was ich persönlich für eine schamlose Lüge halte. So weit ist die Gentechnik auch wieder nicht.

Trotzdem sind sie beeindruckend, diese Spielereien.

Fingerübungen.

Aphorismen, verfasst in der Sprache der Natur.

Liebe Biotechnogenetiker, ich finde, ihr habt lange genug herumgealbert. Der Ernst des Lebens wartet.
Nehmt euch endlich eines wirklich wichtigen Problems an.

Warum, so frage ich mich, verhält sich der menschliche Körper so wenig kohärent? Hautflächen sind bereit, Hornhaut als Schutzschicht zu bilden, wenn sie mechanischer Belastung ausgesetzt sind. Ein wenig Gartenarbeit führt zu Schwielen an den Händen. Wenn ich fleißig mit der Kettlebell trainiere, muss ich meine Handflächen mit ebensolchem Fleiß pflegen. Und der Läufling an sich kennt das Thema Fußpflege zur Genüge.

Alles passt sich an Belastungen an.

Fast alles.

Außer Brustwarzen.

Brustwarzen wollen abgeklebt werden. Es ist ihnen offenkundig vollkommen egal, dass andere Körperteile schon längst den Vorzug des Anpassens erkannt haben. Überleben durch Anpassung? Brustwarzen als Spezies wären schon längst ausgestorben. In der Zeitung könnten wir lesen, das letzte Brustwarzenpaar sei beim London Marathon des Jahres 1992 verendet. Die Überresste in Form eines befleckten Laufshirts würden wir im British Museum bewundern können.
Weniger zur Arterhaltung, sondern zum Vermeiden unangenehmen Reibens kleben wir brav ab. Vor jedem größeren Lauf.

Aber: ich verspreche mir viel von der Biotechbranche. Es kann ja nicht so schwer sein, Brustwarzen zu schaffen, die bei Reibung langsam aber sicher eine Schicht Hornhaut entwickeln. Handflächen können es. Fußsohlen auch. Bitte auch Brustwarzen.

Irgendwer wird jetzt wahrscheinlich den Gedanken hegen, Hornhaut auf den Brustwarzen könnte möglicherweise das Säugen des Nachwuchses erschweren.
Ich möchte dem entgegenhalten, dass ich – Geschlecht: Mann – keineswegs die Absicht habe, jemals einen Säugling zu säugen. Ich denke, dass ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehne, wenn ich behaupte, dass ich hier für die meisten Geschlechtsgenossen spreche. Wenn es um die Erhaltung der menschlichen Art durch Fortpflanzung und Aufzucht geht, finde ich die serienmäßig mitgelieferten Werkzeuge sinnvoll zwischen Mann und Frau aufgeteilt. Ich möchte die mir mitgegebenen Werkzeuge behalten. Da bin ich ganz konservativ.
Kurzum: ich brauche meine Brustwarzen nicht als Öffnungen für die Nahrungszufuhr junger Menschen. Demnach darf der männliche Nippel ohne Funktionseinbußen Hornhaut entwickeln.

Und die Frauen?

Ach, das Genderthema, dem ich mich gern stelle. Es spricht nichts dagegen, die Bildung von Hornhaut während der Stillzeit zu unterbinden. Eine kleine Erschwernis in der Aufgabenstellung – aber, liebe Genetiker, ich bin sicher, dass ihr auch das hinkriegt.

Rasant wie der Fortschritt hinfort schreitet, kann es nicht mehr allzu lange dauern.
Ich für meinen Teil verzichte jedenfalls darauf, Aktien von Pflasterfabriken zu kaufen. Wenn Nippel nicht mehr schutzbedürftig sind, wird der Verkauf von Pflastern einbrechen.

Zuvor gilt es, die Biotechnologiebranche auf den rechten Weg zu bringen.

Freiheit für Läufer – Hornhaut auf die Nippel!

Ich laufe lieber

Ich liebe Autos. Wenn es aber um freudvolles Vorankommen geht, laufe ich lieber. Und das hat nichts mit Spaß an der Bewegung zu tun, denn den habe ich sowieso.

Womit aber dann? Ich laufe einfach los, dann wird schon deutlich werden, was ich meine.

Zuerst ziehe ich meine nagelneuen Laufschuhe an. Die alten waren zwar noch gut, bloß darf ich seit kurzem nur dann im Ort laufen, wenn die Schuhe einen bunten Aufkleber tragen. Wie früher die Stadtmauern sollen nämlich jetzt Schilder die Städte schützen. Angeblich seien die Ausdünstungen der Sportlerfüße ungesund. So ganz lässt sich das zwar nicht nachweisen, aber Hauptsache, der Bürger hat den Eindruck, die Obrigkeit tut etwas. Daher die neuen Schuhe.

Meine übliche Runde führt mich aus dem Ort hinaus auf schmale Straßen, die inmitten der Felder verlaufen. Kaum Verkehr, asphaltiert, flach, griffig. Theoretisch ein ideales Gefilde für Tempotraining, wären da nicht die zur Mäßigung mahnenden Zeichen. Schneller als 7 Minuten pro km darf ich nicht. Freilich könnte ich hoffen, dass ich nicht erwischt werde, oder darauf, dass mich ein Spurt über den umgepflügten Acker vor einem der neulich eingeführten Laufpolizisten rettet. Aber, und das ist ein großes aber: mit den Laufpolizisten ist auch eine Art Nummernschild Vorschrift geworten, die ein jeder Läufling auf der Stirn tragen muss.

7 Minuten pro Kilometer. Oder langsamer. Auf einer geraden, freien, unbelebten Strecke. Eigentlich kann ich fast ins Gehen fallen, die Flugphase lohnt ja kaum. Eher muss ich darauf achten, dass ich nicht einschlafe. Ich falle ins Grübeln über den Sinn verordneter Lahmheit.

Die simple Logik dahinter lautet: langsamer ist sicherer. Am sichersten wäre demnach der Stillstand. Warum ist eigentlich noch niemand darauf gekommen? Ich halte besser die Klappe. Bloß keine schlafenden Hunde wecken. Immerhin: das hält mich wach.

Mit dem Waldrand endet nicht nur der asphaltierte Teil, sondern auch das Tempolimit. Auf dem Schotterweg lasse kann ich es endlich krachen lassen, was ich für ein paar Minuten ausgiebig tue. Jawoll, so macht Laufen Spaß! Kurz darauf laufe ich auf fünf Läuflinge auf, welche wie aufgereiht hintereinander vor sich hin schlurfen. Noch eine Beschränkung? Nein, der vorderste in der Reihe träumt und trottet.

Leider ganz links, und leider ist es höchst illegal, einfach rechts vorbeizurennen.

Was denjenigen in ein Dilemma bringt, der gerne schneller unterwegs sein möchte. Rechts überholen? Verboten, verwerflicher noch als Mord, und beinahe so schlimm wie Steuerbetrug.

Wir dürfen auch nicht auf uns aufmerksam machen, indem wir „hey, lass‘ uns vorbei“ rufen: Nötigung. Ein kurzer Pfiff als Ausdruck von „Entschuldige bitte, ich möchte schneller laufen als du“. Ist auch nicht erlaubt, weil der Angesprochene den Pfiff als „verpiss dich auf die rechte Spur, du Penner“ verstehen könnte. Ich gebe zu, die meisten meinen genau das.

Unsere einzige Möglichkeit besteht darin, den in Morpheus‘ Armen selig schlummernden Schlurfer durch „unvermeidbare, natürliche Lautäußerungen des Körpers“ aufzuwecken. Ein Urteil des Bundesgerichtshofes lässt genau diese Geräusche ausdrücklich zu. Also husten, niesen, rülpsen und räuspern wir uns, was die Lungen hergeben – und das ist einiges, denn das Tempo lässt uns wahrlich genug Luft!

Nach einigen wenigen Minuten geschieht das Wunder: der Schläfer geht nach rechts!

Haben wir ihn geweckt? Nein, er will abbiegen.

Ich genieße die nächsten paar Kilometer im Wald, komme am Abzweig eines herrlichen Single-Trails vorbei, den ich früher gerne gelaufen bin.

Heute darf dort nur noch gegangen werden. „Verkehrstrennung“ heißt das Zauberwort. Single-Trails und Wege unter einem Meter Breite sind für Spaziergänger und Wanderer, darüber für Läufer. Mountainbiker dürfen überhaupt nicht mehr auf normalen Waldwegen fahren, für sie gibt es abgesperrte Areale.

Weil ich keine Lust auf Gehtempo habe, lasse ich den Trail bleiben.

Kurz vor Schluss grüßt wie immer Landvogt Gessler an der Einmündung.

Nicht persönlich, sondern in Gestalt seines Hutes, der in moderner Zeit in Form eines Stoppschildes daherkommt. Ich bleibe brav stehen, die Füße vorschriftsgemäß parallel nebeneinander. Mein Blick geht zuerst nach links, dann nach rechts, um ich davon zu überzeugen, dass wirklich niemand kommt. Freilich sehe ich das schon hundert Meter vorher, oder im langsamen Gehen. Wie sonst eben auch, wenn andere Vorrang haben. Manche Kreuzungen, findet die Obrigkeit offenbar, bedürfen einer besonderen Würdigung. Daher gibt des den modernen Gesslerhut.

Wieder zuhause, bin ich wirklich froh, dass ich beim Laufen noch so viel Freizügigkeit genießen darf. Ich darf loslaufen, wann ich will, und sogar die Strecke frei wählen! Autofahrern geht es in dieser Hinsicht wirklich schlecht. Sie müssen jede Fahrt vorher genehmigen lassen:

Zeitpunkt der Abfahrt, Start- und Zielort, Route, und so weiter. Meine Güte.

Laufen hat die Freiheit, die ich meine.

Deshalb laufe ich lieber.

Schrott gesucht

Gibt es das heutzutage eigentlich noch? Schrott? Völlig wertlosen Kram, der so gar nicht taugt? Mir kommt die meisten käuflichen Dinge zumindest brauchbar vor.

Selbst die Laufklamotten vom Discounter übrigens, und sogar deren Schuhe – der Selbsttest steht allerdings noch aus.

Aber richtiger Schrott? Woran erkenne ich, dass ich unbrauchbaren Krempel von echtem Schrott und Korn gefunden habe?

Ich begebe mich also auf die Suche nach irgend etwas, von dem ich nicht genau weiss, wie es beschaffen ist. Das ist ein bisschen wie Ostern, ohne Eier zu kennen. Eigentlich ein witziger Gedanke: irgendjemand muss während der Suche darüber nachdenken, was ein Ei ist. Sozusagen die Eihaftigkeit von Hühner- und Schokoeiern begreifen. Eihaftigkeit? Eisamkeit gefällt mir besser!

Schnappe ich mir den erstbesten Gegenstand, um ihn auf seine Schrottsamkeit hin zu prüfen? Dann den nächsten, und so weiter? Viel zu mühsam, außerdem habe ich Glück, weil mir ein schönes Wort in den Sinn kommt: Ein Begriff, der so inflationär gebraucht wird, dass ich mich scheue, ihn hier hinzuschreiben. Ich tue es trotzdem: die Rede ist von „Qualität“.

Alles ist, ein jedes hat Qualität, selbst der Krempel, dessen einzige Qualität darin besteht, dass er am Ladentisch herumliegt. Irgendwo steht geschrieben, Qualität würde messen, wie gut ein Produkt die gestellten Anforderungen erfüllt. Nicht schlecht.

Schrott als schlechte Qualiät, das hilft mir weiter.

Im Laufladen meines Vertrauens fällt mein Blick auf Kompressionskleidung. Ich hatte es vor Jahren mal ausprobiert, es war fürchterlich. Eingeengt nach innen, Presswurst nach außen, was für ein Schrott! Doch halt, viele schwören ja drauf. Wenn ich meine persönlichen Vorlieben als Kriterium heranziehe, werde ich kaum fündig. Nichts mit Ostern.

Am Schuhregal höre ich im Geiste eine Stimme – Lieber Leser, das bedarf keineswegs eines Kommentars wie „er hört Stimmen, ich hab’s schon immer gewusst“ – eine Stimme, die ganz osternhaft „waaarm….wääärmer…..“ flüstert. Komme ich dem Schrott näher? Was habe ich schon Blasen gehabt, Schmerzen erduldet, nur weil ich trotz zwei, drei Nummern größer gekaufter Schuhe an den Zehen zu wenig Platz hatte. Ja, ich habe breite Füße! Wieso gibt es nur diese dämlich schmalen Schuhe?

Schrott! Oder? Irgendwie nicht.

Ich werfe den Schuhherstellern vor, dass sie zwar unterschiedliche Längen, aber nicht Weiten im Angebot haben. Mich ärgert, wenn ich mich wieder einmal die Balance „zu lang“ und „zu eng“ finden muss. Für „Schrott“ reicht das leider nicht aus.

Ich suche weiter.

Da kommt mir in den Sinn, dass sich neulich jemand echauffierte, weil er im Regen trotz Jacke völlig durchnässt wurde. Heureka! Endlich bin ich fündig geworden! Das habe ich mir so lange eingebildet, bis ich die Jacke gesehen habe. Es war eine Windjacke. Sündteuer zwar, aber eben eine Windjacke. Wasserabweisend, nicht wasserdicht. Superleicht, aber für starken Dauerregen nicht gedacht.

Ich sehe mich am Ende einer Sackgasse.

Am besten, ich drehe um, und setze die Suche anderswo fort. In Japan, um genau zu sein. Dort lebt Herr Kano, der das Kano-Modell erdacht hat. Vielleicht hat er’s auch von seinen Studenten erdenken lassen, der Mensch ist schließlich Professor, und in so einer Position braucht man nicht mehr selbst denken. Wie dem auch sei, das Kano-Modell befasst sich mit Qualität. Was mir weiterhilft, ist die Unterscheidung zwischen Basis- und Begeisterungsmerkmalen.

Basismerkmale, das sind die Eigenschaften, die ich erwarte, ohne nachdenken zu müssen. Die mir oft nicht einmal bewusst sind. Und wehe, wenn das nicht stimmt: Schrooooootttt!

Klamotten zum Beispiel: lockt es irgendwen hinter dem Ofen hevor, wenn jemand erzählt, dass die Nähte halten? Das ist selbstverständlich, oder? Klares Zeichen für ein Basismerkmal. Wenn so eine Naht nach kurzer Zeit aufgeht, ärgert man sich.

Ich glaube, meine Kano-Tour hat sich gelohnt. Schrott erkenne ich daran, dass selbstverständliche Erwartungen nicht erfüllt werden.

Windjacken von Aldi halten den Wind ab. Sie sind vielleicht etwas schwerer als die der Premium-Marken, passen etwas schlechter, die Farben sind weniger stylish, aber, und das ist der entscheidende Punkt, sie halten den Wind ab. Also kein Schrott.

Schrott, das weiss ich mittlerweile, geht mir auf den Sack. Das ist bei mir ein untrügliches Zeichen. Ich benutze irgendein Produkt für den gedachten Zweck, und es nervt mich. Zum Glück kommt sowas nur selten vor, aber ich weiss jetzt, dass ich fündig geworden bin.

Ich besitze einen Trinkrucksack, dessen Tragegurte an den Verstellungen durchrutschen. Alle halbe Stunde muss ich sie nachziehen, weil sie wieder ein paar Zentimeter länger geworden sind. Tragegurte, das ist kein High-Tech, bei dem sich die Entwickler noch an die optimale Lösung herantasten müssen. Popelige Gurte an einem Laufrucksack. Die Aufgabe besteht für den Hersteller schlicht und ergreifend darin, eine geeignete Werkstoffpaarung von Gurt und Schnalle, von mir aus auch die passende Geometrie oder sonstwas so auszuwählen, dass sich die Länge leicht einstellen lässt – und eine einmal eingestellte Länge bleibt. Und die Anforderung ist nicht neu, sowas gab es schon vor hundert Jahren, damals noch mit gelochten Lederriemen. Es gibt also keine Ausrede für den Hersteller. Sein Produkt erfüllt ein Basismerkmal nicht.

Welch ein Schrott!