Grüße aus dem Mental

Ich bin zwiegespalten.

Auf der einen Seite höchst empfindlich, wenn es um kratzige Kleidung geht. Vor ein paar Jahren, daran erinnere ich mich sehr gut, probierte ich einen Pullover aus Schafswolle an, den ich mir, Sekundenbruchteile nachdem er auf meinen nackten Unterarmen auflag, schreiend vom Leibe riss. Das waren, wie gesagt, nur Arme und ein Stückchen Hals. Wolle? Ich verwende sie gerne, wenn ich die Motorhaube meines Autos vom Lack befreien will.

Das ist die eine Seite der Medaille.

Andererseits fasziniert mich Merinowolle mit ihren Eigenschaften. Meine Lieblingssocken sind aus Merino, und Mützen aus diesem Stoff schätze ich sehr. Warm auch wenn sie triefend nass ist, geruchsneutral, schafft sie ein wunderbares Körperklima.

Obzwar Merinowolle als superweich angepriesen wird, empfinde ich Prinzessin auf der Hülsenfrucht auch bei diesem Material ein leichtes Kratzen. Daher behelfe ich mir gerne mit einer Basisschicht aus Kunstfaser (weich!), über der Merino für Klimakomfort sorgt.

Davon abgesehen begeistert mich dieses Material, nur kann ich mich kaum dazu überwinden, es direkt auf der bloßen Haut zu tragen. Immerhin gibt es, und das lässt mich hoffen, Unterschiede zwischen verschiedenen Marken. Im Selbstversuch erfuhr ich, dass nicht alle im gleichen Maße „nicht weich“ sind.

Mein Dilemma: Ich würde gerne wollen, bloß traue mich nicht recht zu machen.

Was tun?

Meine Überlegungen führten mich auf den Gedanken, das Problem ließe sich mental lösen. Also reiste ich zur Kur in das schöne Mental. Eine Reise, von der ich mir erhoffte, sie möge das Pendel ein Stück weiter zugunsten von Merino ausschlagen lassen.

Zunächst besann ich mich, dass schwitzige Haut besonders empfindlich auf Reize reagiert. Im ersten Versuch trug ich ein dünnes Leibchen aus Merinowolle direkt auf der Haut, als ich zu einem viertelstündigen Spaziergang aufbrach. Nur nicht Schwitzen, war die Devise. Und siehe da: Es fühlte sich etwas rau an, sonst war alles in Ordnung.

Dadurch ermutigt, fiel einige Monate später der Startschuss für die nächste Stufe: ich wollte eine dreiviertel Stunde merinobekleidet laufen. Schwitzen ist dabei mehr als nur eine Möglichkeit, es ist sogar höchst wahrscheinlich.

Also auf zum Lauf.

Während dessen ich mich dabei ertappte, dass ich meine merinobedeckte Oberkörperoberfläche ständig abhorchte: „könnte nicht…ist es etwa…?“. Mehr als ein leichtes Pieken von Zeit zu Zeit war auch bei höchster Konzentration nicht zu spüren. Wie beim tropfenden Wasserhahn lag ein Teil der Aufmerksamkeit auf dem unerwünschten, doch erwarteten Geräusch.

Von diesem Vergleich inspiriert, zündete ich die Mentalrakete.

„Es kratzt nur im Kopf“

Herzliche Grüße aus dem Mental.

Was denkbar ist, ist auch möglich.

Motivationsseminar der ganz harten Sorte. Ich sehe ihn vor mir, den Träner: die Laune genauso blenden wie seine Zähne, dunkler Maßanzug, gegeltes Haar…. Ja, ich pflege meine Klischees! Es wird still im Saal, knisternde Spannung ist spürbar. Das Publikum fiebert einer Weisheit entgegen.

Motivationsseminar der ganz harten Sorte. Ich sehe ihn vor mir, den Träner: die Laune genauso blenden wie seine Zähne, dunkler Maßanzug, gegeltes Haar…. Ja, ich pflege meine Klischees!

Die Dramaturgie der Veranstaltung sieht vor, dass der sorgsam aufgebaute Spannungsbogen in einen einzigen Satz mündet. Ein Satz von universeller Weisheit, gültig für alle Zeiten. Die Spannung steigt im gleichen Maße, wie sich erwartungsvolle Stille über das Publikum senkt.
Dann wird er ausgesprochen. Er, der Satz: „was denkbar ist, ist auch möglich!„. Von Wittgenstein! Einem Giganten der Philosophie! Wenn der es sagt, muss es einfach stimmen!

Und schon spüre ich die Wirkung des Satzes.

Ich denke, ich laufe den Marathon unter drei Stunden.

Denke weiter, es ist möglich!

…zweizwanzig….achwas, 1:50!….halbe Stunde….in Nullkommanix!….ja, es ist möglich!….ich bin vor dem Start im Ziel!

Ich denke, also ist es möglich!

Ja, JA, JAAA, TSCHAKAAAAAAAAA………….!

Äh.

Nein.

Wie war das gleich wieder? „Wenn es denkbar ist, ist es auch möglich“.

Es ist ein Satz, der von jener Sorte Motivationsträner ge- beziehungsweise missbraucht wird, deren Platitüden jeder sofort und gerne zustimmt. Träner, deren Worte bei weiterem Nachdenken jedoch Tränen in rollende Augen treten lassen.

Wird ein einzelner Satz einfach so aus seinem Zusammenhang gerissen, um danach in einer Umgebung wieder aufzutauchen, die ihm nicht gerecht wird, kommt mir das wie Diebstahl vor. Als würde ein Diamant aus seiner Fassung gebrochen, weil man ihn so leichter verkaufen kann.

„Was denkbar ist, ist auch möglich“ lebt stattdessen von der Fassung in Form der ihn umgebenden Sätze, stellt man ihn einfach anderso vor, ist es ein banaler Satz. Eine leicht widerlegbare Behauptung, die nur deshalb im Seminar wirkt, weil so gerne das Zauberwort „Wittgenstein“ dazu genannt wird.

Der Satz ist von Wittgenstein, deswegen müsst ihr eurem Tränerguru glauben.

Ich hoffe, das Zerrbild fällt auf.

Zitate sind super, wenn sie auf Substanz hindeuten. Unser Satz ist oft nur eine von vielen Häuten einer Zwiebel. Zieht man eine Haut ab, gelangt man an die nächste. Und so weiter, bis am Ende feststeht, dass nichts da war außer Hülle.

Was hat das mit Laufen zu tun? Nichts. Noch nichts.

Wir kratzen weiter an der Oberfläche, bewegen wir uns doch ein Stück weiter zu einer Stelle, an der wir hoffen dürfen, mehr zu finden als – nichts.

Dazu bleiben wir bei Wittgenstein, ich erspare ihm nicht, auch von mir für meine Zwecke vereinnahmt zu werden. Wenigstens dient es mit der Kurzweil meiner Leserschaft einem guten Zweck.
Wittgenstein. Gutsituierter Industriellensohn, Architekt, Typograph, Philosoph. Vor allem Philosoph, der den berühmten Tractatus wenigstens teilweise im Schützengraben verfasste. Zu jener Zeit tobte gerade der erste Weltkrieg. Allzu sehr wird er nicht immer getobt haben, so dass Ludwig Zeit zum Schreiben blieb.

Im Tractatus, nein, ich bleibe kurz bei Wittgenstein selbst, weil ich den Typen ziemlich schräg finde. Erzählte er der Prüfungskommission bei der Doktorprüfung doch wohlwollend, sie würden seine Gedanken eh‘ nicht kapieren.
Und im Vorwort des Tractatus schreibt er, er habe sich nicht die Mühe gemacht, nachzuprüfen, ob seine Gedanken schon jemand anderes gehabt hatte. An die Adresse moderner Polit- und Prestigedoktörchen: Leute, ihr seid nicht Wittgenstein. Ihr müsst leider ordentlich zitieren!

„Ich muss ordentlich zitieren.“ Das schreibt ihr bis morgen hundert Mal. Mit Quellenangabe.

Nun steht im Tractatus also jener unschuldige Satz: „wenn man etwas denken kann, ist es auch möglich“. Aus dem Zusammenhang herausgeschält, mutterseelenalleine ohne die ihn stützenden, ihn ins rechte Licht setzenden Sätze gerät er leicht auf die eingangs erwähnten Abwege.

Lassen wir aber die Hilfe seiner Vorfahren zu, so kommen wir nicht umhin, seinen auf die Sprache eingeschränkten Geltungsbereich wahrzunehmen. Mit der „Möglichkeit“ meint Läuferfreund Ludwig nämlich, dass alles was irgendein „Ding“ tun oder sein kann, schon irgendwie in diesem Ding steckt. Als Möglichkeit.
Ein Laufshirt kann gebügelt oder zerknüllt sein, stinken oder nicht, am Körper getragen werden oder nicht. Undsoweiter.

Möglichkeiten eines Laufshirts.

Wird Wittgenstein mit „dem“ Satz zitiert, handelt es sich um Sprachphilosophie. Hat also mit dem Ansatz der Seminarbrangsche wenig zu tun.
Was fängt der gemeine Läufling jetzt damit an? Ich schlage vor, wir klauen den Satz aus dem Tractatus, so wie viele andere vor uns. Wir bleiben aber nicht dabei stehen, sondern nehmen noch ein paar andere Gedanken mit. Wo wir schon mal da sind….

Das solcherart erworbene Diebesgut packen wir in den Sack, auf dem jetzt nicht mehr „Sprachphilosophie“, sondern etwas wie „erkenne dich selbst“ steht. Oder „Potentialanalühse“, wenn wir uns fremdwortreich ausdrücken wollen. Bei den Dingen wissen wir, dass sie „Möglichkeiten“ haben. Weil ein Ding dumm ist, kennt es seine Möglichkeiten nicht, so wie wir das tun. Das heißt: Wie ist das mit unseren Möglichkeiten? Wir sollten, nein wir müssen sie kennen, damit wir sie nutzen können.

Schwupps, sind wir mittendrin im Motivationsthema!

Wenn ich meine Grenzen auslote, weiß ich, dass ich mich innerhalb dieser Grenzen, im Rahmen meiner Möglichkeiten, bewegen kann. Dann kann ich denken, dass es, was es auch immer ist, hinhaut.
Wortspiel am Rande: ich kann mir denken, dass das möglich ist. Alle möglichen (!) Zweifel kann ich mir sparen!

Marathon in Nullvierzig? Vergiss‘ es.

Marathon in…wasauchimmer? Freilich!

Ist das Mentaltraining? Vielleicht.

Hat es mit Zielfindung und dergleichen zu tun? Banales Zeug? Aber sicher!

Läuflingsfreund Ludwig, den ich zum Schluss wieder mißbrauche, könnte gesagt haben… nein, ich lege ihm keinen Satz in den Mund.

Wenn es möglich ist, kann man es auch denken. Und dann kann man es tun.