UTMB 2012

Seit dem UTMB können Eskimos mir mit ihren 20 Begriffen für Schnee nicht mehr imponieren. Ich kenne mindestens genauso viele Arten von Matsch. Da gibt es beispielsweise den rutschigen Matsch, den flüssigen Matsch, halbflüssig oder zäh tropfend. Dann Matsch, der an den Schuhen zieht, und den, der an ihnen festhängt, um Stöckelschuhe zu bilden. Wir finden bröckelingen Schlamm, und solchen, der von Pflanzenfasern durchsetzt ist. Kalter Glibber zeichnet sich durch ein symbiotisches Verhältnis zu Schneematsch aus, von dem er sich durch einen höheren Erdanteil unterscheidet. Außerdem hätten wir noch den Typ „aufgeweichte Wiese“. Genauso rutschig, nur dreckiger.

Ein paar Tage zuvor hatte sich das Wetter noch von seiner besten Seite gezeigt: Blauer Himmel, Sonnenschein, mit maximal 20 Grad genau richtig, um ihn zu genießen. Ihn, den Zauber der Berge, wie Luis Trenker es formuliert haben würde. Vielleicht hat er ja auch. Traumhaftes Wetter, jedenfalls bis es sich zwei Tage vor dem Start zusehends verschlechterte. Am Renntag zwang strömender Regen den Veranstalter, die Strecke auf 104 km zu verkürzen. Wobei der Grund hierfür wohl weniger an dessen Mitleid mit uns armen Läuflingen lag, sondern schlicht darin, dass es die Bedingungen auf den Pässen in rund 2500 m Höhe aus Sicherheitsgründen nicht zuließen, die Teilnehmer drüber zu schicken. Bis zu 50 cm Neuschnee, Temperaturen um 0°C und heftiger Wind sprachen eine deutliche Sprache. Aber auch die Alternativroute hatte es in sich. Es regnete die ganze Nacht und den größten Teil des nächsten Tages, viel wärmer als geschätzte 5° wird es nicht gewesen sein. Anders formuliert: ungemütlich. Sehr ungemütlich. Ungemütlich genug, um vier (vier!) Kleidungsschichten vorzuschreiben.

Die meteorologischen Bedingungen hatten eine interessante Auswirkung auf des Läuflings Psyche. Jedenfalls auf meine. Schien es zunächst, als würden die Temperaturen tagsüber noch halbwegs warm, nahm ich dies zum Anlass, eine neue Dreivierteltight zu erstehen. So ziemlich das einzige Kleidungsstück, das ich nicht dabei hatte. Eine neue, superleichte Regenjacke spendierte ich mir obendrein. Und am Renntag selbst noch eine Pelerine, angeblich atmungsaktiv, die auch meinen Rucksack trocken halten sollte. Nur unter Aufbietung meiner gesamten, ultragestählten Willenskraft gelang es mir, den sonstigen Verlockungen auf der Expo zu widerstehen. Ein Ansinnen, bei dem mir Autosuggestion ungemein half. Ich sagte permanent mein neues Mantra vor mich hin, welches da lautet „equipment alone won’t bring me home“.

Hatte ich schon irgendwo erwähnt, dass ich gerne bei ungemütlichem Wetter laufe? Nein? Hübsch eingepackt in Funktionsklamotten trabe ich frisch meines Weges, hoch erfreut über kühle Temperaturen. Wisst ihr, dass ich kein Hitzeläufer bin? Einzig die Begleiterscheinung „Matsch“ vermag die Freude etwas zu trüben. Siehe erster Absatz. Außerdem waren nicht nur die Wetteraussichten, sondern auch die Aussicht eingeschränkt, denn viel zu sehen gab es infolge der Wolken und der hereinbrechenden Nacht nicht. Dafür hatten wir Gelegenheit, uns an den Verpflegungsstellen reichlich zu laben. Mein persönliches Highlight hatte ich in La Balme, wo ich irgendwann des Nachts einen Kaffee begehrte. Ganz grob der Kontext: es war Nacht, dunkel, kalt, Regen, müde, Wind. Und dann bekomme ich nicht nur Kaffee mit Zucker in meine hingehaltene Tasse geschenkt, eine nette Dame rührte sogar für mich um! Das wärmte Leib und Seele!

A propos Wärme, Softshell-Handschuhe sollen ja das Wasser abweisen, mithin auch bei Nässe wärmen. Ich durfte dies im Selbstversuch prüfen. Ein, zwei Stunden mögen sie die Nässe draußen halten, nach vielleicht sechs Stunden sind die Teile komplett durchweicht, und ich bekam kalte Finger. Insofern ist es sinnvoll, wenn die Ausrüstungsliste wasserdichte Handschuhe beinhaltet. Die Spülhandschuhe brauchte ich letztlich nicht herauskramen, lange Ärmel des Ponchos halfen auch. Trotzdem eine sehr aufschlussreiche Erfahrung, genau wie das Laufen in Nacht und Wolke nebst erquickender Kombination aus Niesel, Schnee- und richtigem Regen mit Stirnlampe. Ähnlich freudvoll als würde man mit Fernlicht im Nebel fahren. Es bleibt entweder eine sehr devoter Blick kurz vor die Füße, oder langsames Verrücktwerden ob des Anblicks von wirrweißen Strichen auf dunkelgrauem Grund.

Ach ja, bevor ich es völlig vergesse: irgendwann später – es wurde schon wieder dunkel – kam ich ins Ziel. Und das verlangt nach einer Antwort auf die Frage, die mir seither schon oft gestellt wurde. Sinngemäß lautet sie „bist du jetzt stolz, weil du ankamst – oder enttäuscht, weil es nur 104 km waren?“.
Diese beiden Stimmen sind es in der Tat, die mir im Kopf herumspuken. Klar bin ich stolz, dass ich jetzt „auch“ mit der Angeberweste des offiziellen UTMB Finishers umherlaufen darf. Ich freue mich, dass ich an einem wunderschönen Lauf in einer herrlichen Gegend teilnahm, und natürlich spielen auch die Bedingungen eine Rolle, denn bei schönem Wetter kann ja jeder….
Dem entgegen steht die kürzere Strecke: 64 km und 3500 Höhenmeter, vor allem eine weitere Nacht waren gerade die neue Herausforderung, um derentwillen ich nach Chamonix gereist war. Kurzum, es war hart, es war toll, ich bin froh und stolz. Und ich fahre nochmal hin!

Das Buch zum Shirt

Früher war alles weniger. Vielleicht mehr Lametta, aber, global gesehen, insgesamt weniger. Wenn man ein neues Laufshirt kaufte, bekam man, nun, eben ein Shirt. Ohne Optionen. Und weil das alle so taten, entstand bei den Herstellern der Druck, besser oder wenigstens anders zu erscheinen als die anderen. Wie soll man sich von der Konkurrenz abheben? Mit einer netten Dreingabe vielleicht?
Als ich jüngst ein neues Laufleibchen erwarb, lag diesem ein Buch bei! Gut, es war kein vornehmer, in Schweinsleder gebundener Foliant, nichmal Hardcover. Wenn ich es recht bedenke, hatte das Buch überhaupt keinen Einband. Aber ich will nicht unken, als Leseratte freue ich mich über ein nettes, achtseitiges Buch.
Es ist ein überaus lehrreiches Werk, welches man mir mitgab, denn ich weiss zum Beispiel, dass besagtes Leibchen komplett aus Polyester hergestellt wurde. Das erfreut mich, denn ich will weder mit irgendeinem Bastard aus Polyester und Elastan, noch mit irgend so einem Plastikkram herumlaufen. Stattdessen: einhundert Prozent feinstes Polyester! So beruhigt, bleibt die sogenannte „Kaufreue“ aus. Ein kluger Schachzug des Herstellers.

Des Weiteren gibt man mir Ratschläge, wie das Shirt denn zu waschen und zu pflegen sei. Ich soll es bei dreißig Grad Celsius waschen, nur auf Weichspüler muss ich verzichten. Das ist schade, denn ich mag gerne weiche Klamotten an meinem zarten Leib. Zum Ausgleich zeigt der Produzent sein Herz für jene Läuflinge, die lieber laufen als waschen, denn Maschinenwäsche ist vollkommen in Ordnung. Sagt das Symbol. Wenn ich es eilig habe, kann ich sogar schleudern, und in den Trockner darf es auch. Toughes Teil, das muss an dieser Stelle mal gesagt werden!
Chemische Reinigung geht gar nicht, dafür ist es gestattet, mit dem Bügeleisen bei niedriger Temperatur etwaige Knitterfalten sanft zu glätten. Auch daran sehe ich, dass sich die Produktplaner intensiv mit den Bedürfnissen ihrer Kunden beschäftigt haben. Denn natürlich will kein Läufling ungebügelt durchs Ziel. Mir ist das nicht so wichtig, aber es ist doch schön, zu wissen, dass ich Bügeln könnte, wenn ich denn wollte.

Ein großes Manko des Werkes besteht meiner Ansicht nach darin, dass die Autoren sich nur unvollständig über die Art der Trocknung äußern. Sie sprechen zwar den Wäschetrockner an, aber was ist mit anderen Trockenarten? Kann ich es auf die Leine hängen oder muss es liegen? Wie ist es mit Sonne: darf ich mein Leibchen in der Sonne trocknen? Ich nehme zwar an, dass mir alle Möglichkeiten offen stehen, trotzdem wäre mir irgend eine Information dazu willkommen. Meinetwegen kann man ja ein Symbol anfügen, welches sagt „mach es, wie du es für richtig hältest, dem Produkt ist das egal“.
Hatte ich überhaupt erwähnt, dass diese Pflegeanleitung nicht in Textform, sondern in einer schönen, leicht zu entschlüsselnden Symbolsprache abgefasst ist?
Nun, jetzt wisst ihr es.

Und jetzt kommt das Beste: das Buch leistet einen Beitrag zur Volksbildung, denn es ist mehrsprachig verfasst! Sämtliche Angaben kann ich auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch nachlesen. Ich weiss jetzt, was Polyester auf Japanisch bedeutet, und kann „Made in China“ in kyrillischen Buchstaben schreiben.
Wer weiss, wofür es gut ist. Vielleicht komme ich bei einem Ultratrail mal mit einem Malaien ins Gespräch, und irgendwann geht uns das Thema aus. Betretenes Schweigen. Unangenehm für beide. Bis uns einfällt, Waschtipps in seiner Muttersprache Bahasa Malayu auszutauschen: „Bügelst du deine Armlinge?“ „Ja, wenn ich sie nicht im Trockner hatte.“ „Sei aber vorsichtig mit der Temperatur. Ich kann meine nur relativ kühl glätten.“

Bei einer solchen Fülle an Wissen ist es jammerschade, dass das Buch nicht in einer Form beiliegt, die es mir gestatten würde, es gemeinsam mit anderen Werken industrieller Prosa in ein Regal zu stellen. Denn das Buch ist am Shirt angenäht. Sehr gut angenäht. Ich meine keine Fadenheftung, sondern ich rede davon, dass es mit der Seitennaht in Taillenhöhe vernäht ist.
Und das bedeutet, ich muss es entfernen. Einerseits aus Gewichtsgründen, denn bei einem luftig-leichten Shirt fällt ein mehrseitiges Buch ins Gewicht. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Außerdem piekst es.
Manche Hersteller setzen auf gewebeverstärktes Papier, was sich zwar für ein Buch ziemt, dafür aber die Haut peinigt. Mein spezielles Leibchen zählt zu den Premiumprodukten, und hat folglich ein Buch aus Stoff, dessen raue Kanten unangenehm reiben. Also weg damit, ich will schließlich nicht leiden.
Dieses „weg damit“ ist leichter gesagt, als getan, denn das Buch wurde in der Fabrik mit der Seitennaht sehr sorgsam befestigt. Ergo kostet es mich das Entfernen einige Mühe. Wenn ich die Hauptnaht nicht beschädigen will, schneide ich zunächst das Buch entlang der Naht ab. Es bleibt ein rechteckiger Rest in und unter der Naht. Weil ein Rechteck naturgemäß Ecken hat, pieksen diese ebenfalls. Somit geht der Griff zur Nagelschere, um die Ecken abzuschrägen. Immer mit der unter allen Umständen zu schützenden Naht im Hinterkopf. Nur keinen Faden durchschneiden! Nach getaner Arbeit stelle ich fest, dass ich aus vier Ecken nunmehr derer acht gemacht habe. Weniger spitz, aber immer noch fühlbar. Also versuche ich, eine Rundung hinzukriegen. Eine halbe Stunde und zwei, drei mittelschwere Tobsuchtsanfälle später habe ich ein wunderbares Laufshirt.

Fertig. Zeit für erbauliche Lektüre.

Nachdem ich das herausgetrennte Buch ein paar Mal durchgelesen hatte, warf ich es schlussendlich weg. Nicht ohne ein schlechtes Gewissen, denn ich anerkenne die Mühe, die man sich gemacht hat. Ohne das Buch würde ich mein neues Leibchen einfach in die Waschmaschine geworfen haben, hätte diese auf 30° gestellt, und das Ding später zum Trocknen auf die Leine gehängt. Ohne das Buch könnte ich nicht mehrsprachig über Textilpflege parlieren. Ohne das Buch wäre mir nicht bewusst, welch globale Präsenz die Marke meines Vertrauens hat. So aber gehe ich sehr bewusst mit meiner Kleidung um. Ich glaube, ich könnte mich noch mehr mit ihr identifizieren, wenn man dem Beispiel von Woolpower folgen würde. Der schwedische Hersteller schreibt bei jedem Kleidungsstück den Namen der Näherin dazu, die es zusammengenäht hat. Und, übrigens: nennt bitte noch den Verfasser. Auch wenn es wohl nicht zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels reicht, selbst Autoren von Gebrauchsliteratur haben ein Recht auf Öffentlichkeit.

Zwischenzeitlich gibt es bei den meisten Marken Bücher, wenn man Laufkleidung kauft. Deshalb müssen sie sich etwas Neues einfallen lassen, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Wie wäre es zum Beispiel mit einem passenden Regal?

Hoka One One Mafate 2

Erinnert sich jemand an Moonboots? Die waren damals, in den Jahren nach der ersten Mondlandung heftig angesagt. Auch wenn das seinerzeig noch „modern“ hieß. Als ich das erste Mal Schuhe von Hoka One One sah, fühlte ich mich spontan an Moon Boots erinnert. Eigenartig. Warum eigentlich nicht Plateauschuhe? Vermutlich, weil ich als Kind keine trug. Im Gegensatz zu Moonboots. Die Dinger sehen schon witzig aus, wenn man sie nicht am Fuß hat, angezogen wirken sie etwas klobig, was mich umso neugieriger machte, wie es sich denn darin liefe. Ach ja: der Hersteller heißt Hoka One One, wurde von zwei laufbegeisterten Franzosen gegründet, die ihre Produkte nach einem Wort der Maorisprache benannten. „Hoka“ bedeutet, sinngemäß übersetzt, „Zeit, zu fliegen“.


Beschreibung
Hoka One One Mafate 2
Gewicht: 330 g (gewogen)
Hoka One One sieht den Mafate 2 als Trailschuh. Dementsprechend verfügt er über eine gut profilierte Sohle. Das grundlegende Konzept von Hoka One One stützt sich auf zwei wesentliche Merkmale: einerseits eine vorn stark nach oben gebogene Sohle – ähnlich MBT-Schuhen, nur mit dem Unterschied, dass der Rest der Sohle flach ist. Sie soll das Abrollen erleichtern. Zudem setzt Hoka One One auf viel, auf sehr viel Dämpfung. Satte zweienhalb Mal das Volumen einer herkömmlichen Sohle habe man verbaut, sagt der Hersteller. Man denkt, wenn schon nicht ans Fliegen, so doch immerhin an das Laufen auf einer Wolke. Somit bilden diese Schuhe gewissermaßen die Antithese zur Philosophie jenes Teils der Natural Running Bewegung, die auf Dämpfung weitgehend verzichtet.
Damit die entsprechend größere „Flughöhe“ dem Läufling nicht ein Gefühl der Instabilität gibt, ist die Sohle recht breit.
Auch wenn es nicht so aussieht: die Mafate haben kaum Sprengung!
Erfreulicherweise sind die Teile nicht annähernd so schwer wie sie aussehen. Mit 330g liegen sie in der gleichen Gewichtsklasse wie meine Salomon Speedcross.

Test
Anziehen und Passform: Die Mafate sind für meine breiten Füße in Ordnung; das „andere“ Trailmodell, genannt Stinson, ist vorne deutlich schmaler geschnitten. Der erste Eindruck ist, nach einigen Minuten des Herumziehens und Justierens an den Schnürsenkeln, sehr gut. Ich hätte gerne einen Klemmverschluss gehabt, den gibt’s aber nur bei den Stinson. Egal, Tankas lassen sich nachrüsten.

Als ich die Mafate kaufte, hatte ich eine Reihe von Gedanken, von Fragen im Kopf. Vor allem Dingen erhoffe ich mir durch die dicken Sohlen, dass wunden Fußsohlen, die ich auf langen Ultras gerne mal entwickle, ausbleiben. Die endgültige Antwort hierauf wird mir der UTMB geben, beim Test- und Träningslauf über steinige Trails spürte ich deutlich, dass ich fast nichts spürte. Sowas kann man nicht beschreiben, man muss es ausprobieren. Oder nehmt ein dickes Stück festen Schaumstoff, einen kleinen, spitzen Stein drunter und steigt drauf. Der Druck ist zwar da, wird aber auf eine größere Fläche verteilt, und die Spitze ist nicht fühlbar.
Und wie schaut es mit der Stabilität aus? Kein Unterschied zu anderen Schuhen mit dünnerer Sohle. Dadurch, dass die Sohle einerseits recht breit ist, andererseits die Ferse schalenartig umschließt, ist von einem unsicheren, kippeligen Gefühl nichts zu spüren. Jedenfalls gilt das für das Kippen um die Längsachse. Weil die Sohle vorne hochgezogen ist, hatte ich anfangs das Gefühl, ich würde nach vorne umkippen. Tue ich ja auch, denn die natürliche Abrollbewegung wird durch diese Form unterstützt. Nach einiger Zeit hatte ich mich daran gewöhnt.

Was mich allerdings am meisten erstaunte, ist der unwahrscheinliche Grip, den das Profil aufbaut. Meine Teststrecke führte mich einen Mountainbiketrail hinab, und selbst auf den steilsten Abschnitten kam ich nicht ins Rutschen. Sicher, es war trocken. Dennoch war ich beeindruckt.

Fazit
Viel Dämpfung, dicke und breite Sohle, die vorne stark abgerundet ist. So lässt sich das Konzept von Hoka One One in wenigen Worten beschreiben, das hielt, was es verspricht. Ich würde die Hokas sicher nicht für einen schnellen Zehner auf Asphalt verwenden, auch nicht bei einem Marathon. Gerade Ultras dürften aber für jede Schonung ihrer Füße dankbar sein.
Eigentlich der perfekte Schuh für die Prinzessin auf der Erbse – und Ultraläufer.

Kombigeräte

Die Versuchung war groß. Sehr groß. Ich stand vor einem höchst attraktiven Laufleibchen, welches nicht nur bodygemapped war, sondern dazu noch an Schultern und Oberkörper eine wind- und wasserabweisende Hülle hatte. Also exakt dort, wo ich sie mir wünsche! Vorne konnte man zwei Eckchen aufklappen, um Lüftungsöffnungen freizugeben. Damit die Stoffteile dort bleiben, wo sie nicht stören, hatte man eine Befestigung nicht mit Klettverschluss, sondern per Magnet vorgesehen. Eine wahrhaft ingenieuse Lösung! Den kurzen Reißverschluss muss ich wohl nicht extra erwähnen, wohl aber die in Rückenmitte verlaufende Lüftungsöffnung. Und dieses herrliche Traumleibchen, dieses Wunderwerk der textil gewordenen Kreativität bot man zu einem beinah lächerlich günstigen Preis feil! Ich habe es nicht gekauft.

Ich besitze auch weder Laufsocken mit integrierten Gamaschen, noch Windstopper T-Shirts oder Vergleichbares. Und das, obgleich mich für diese Dinge begeistern kann. Es würde mir gefallen, wenn ich bei etwas Wind nur ein Kleidungsstück aus dem Fundus greifen müsste; ein Kleidungsstück, welches mehrere Schichten des Zwiebelschalenprinzips in sich vereint. Mein einziger Besitz, der so einigermaßen in diese Richtung geht, ist ein per Schnurzug zum Beanie zusammenziehbarer Fleeceschlauch, der an Stirn und Ohren einen Windschutz aufweist.

Aber, werden viele Läuflinge nun fragen, wenn er das so toll findet: weshalb kauft er’s dann nicht?
Nun, eigentlich ist es ganz einfach. Beziehungsweise nicht.
Nehmen wir ein T-Shirt als Beispiel. Beinah jeder Wettkampf beschert dem aktiven Läufling ein weiteres, hochwertiges Funktionsshirt. Dazu gibt die in Schichten organisierte Garderobe noch Langärmelige Leibchen verschiedenster Dicke her, sowas sammelt sich im Lauf (sic!) der Jahre einfach an. Obendrüber, je nach Witterung, Windweste, Regenjacke undsoweiter.
Angenommen, ich lege mir ein Windstoppershirt zu. Und wäre entzückt! Nach einigen Einsätzen nimmt es dann ein Aroma an, welches einen Waschgang nahelegt. Also griffe ich zu einem der anderen Shirts, das ich wetterbedingt mit einer mich vor dem Wind schützenden Weste ergänzen müsste.

Was mache ich eigentlich, wenn es mir mit dem Windschutz mangels Wind zu warm wird? Die Weste kann ich ausziehen, der Windschutz bleibt dran, da kann ich leiden, wie ich will. Davon abgesehen ist der Wind- und Wetterschutz umso wirkungsvoller, je weiter außen er in der Zwiebelschale angeordnet ist. Eine sturmfeste Basisschicht bedeutet, dass obendrüber ein, zwei Schichten liegen können, durch die es fröhlich hindurchpfeift. Ich will nicht leugnen, dass ich ein brustgepanzertes T-Shirt wahrscheinlich bei einer Witterung noch solo tragen würde, die mich ansonsten zur zweiten Lage greifen lassen könnte, dass ein Kombiprodukt, stabiles Wetter vorausgesetzt, wahrscheinlich einige Gramm Gewicht einsparen könnte.
Unterm Strich ziehe ich die größere Flexibilität des Zwiebelschalenprinzips vor, bei ich die Schichten bei Bedarf getrennt von einander einsetzen kann. Aktuell, das bedeutet: zum Zeitpunkt, zu dem ich dies hier verfasse, scheint mir die Kombination aus Zwiebel mit Bodymapping als „besonders wertvoll“.

Letzten Endes sind Verbundklamotten Spezialwerkzeuge mit einem eingeschränkten Einsatzfeld, in dem sie ein wenig besser funktionieren als gemeinsam getragene Schichten. Spezialfälle sozusagen. Vielleicht bin ich zu geizig, noch mehr spezialisierte Klamotten zu kaufen.

Der Lauf-Steg

spraingt
Immer hübsch gestyled

In Heidelberg liegt er am Neckar. In Hamburg ist es die Alster, und in München der Englische Garten: der städtische Lauf-Steg.
Um zu erklären, was das eigentlich ist, muss ich weiter ausholen: ein Lauf-Steg ist mit der Lauf-Strecke eng verwandt, und doch von ihr grundverschieden. Vielmehr: Weg und die ihn nutzenden Läuflinge machen den Unterschied aus. Nein, nicht ganz korrekt: erst durch die Symbiose von geeigneter Lauf-Strecke und Läuflingen kann ein Lauf-Steg entstehen. Beginnen wir also damit, beide etwas näher zu betrachten.

Wir lenken unseren Blick zunächst zur Laufstrecke. Eine solche hat ein jeder Läufling. Mindestens eine, die meisten gar mehrere, womöglich findet sich eine Lieblingslaufstrecke darunter. Auf ihnen widmet man sich der körperlichen Ertüchtigung, man „läuft“. Sommers wie winters, bei Tag und bei Nacht, Regen, Sonnenschein, was das Repertoire der dominierenden Klimazone eben bietet. All das finden wir auch am Lauf-Steg, der meistens in Citynähe liegt, worin sich das erste Unterscheidungsmerkmal manifestiert. Niemals wird man einen Lauf-Steg irgendwo mitten im Nichts finden, weit draußen vor der Stadt, gar im Walde mit unbefestigten Wegen. Undenkbar ein Steg im Industriegebiet, inmitten hässlicher Wohnsiedlungen. Zwar ist der Lauf-Steg eindeutig ein Element der urbanen Lauf-Kultur, direkt in der geschäftigen Innenstadt geht allerdings nicht, dort fehlt die Natur als gestaltendes, Atmosphäre gebendes Element.
Ambiente ist unerlässlich, es ist das Outfit des Lauf-Steges.

Outfit ist übrigens auch das Schlüsselwort, welches unsere Aufmerksamkeit auf die dort hauptsächlich anzutreffenden Läuflingen ebnet. Natürlich wird ein Lauf-Steg – wie auch die Laufstrecke – von einem heterogenen Publikum genutzt. Auf dem Lauf-Steg bestimmen durchgestylte Läuflinge das Bild.
Unter- und Oberkörperkleidung, selbst die Socken und Schuhe bilden ein farblich abgestimmtes, harmonisches Ganzes. Johannes Itten würde sich, entspannt auf einer Parkbank sitzend (und jetzt erzähl‘ mir keiner, es gäbe Lauf-Stege, an denen keine Bänke stehen), im offenkundigen Erfolg seiner Theorie der Farbtypen sonnen.
Das Styling macht natürlich nicht bei der Kleidung halt. Nein, Haare in und über dem Gesicht, Fingernägel und Make-Up sind ins Stylingkonzept integriert. Bevor jemand fragt: ja, für den Lauf-Steg schminkt man sich.
Ich wundere mich übrigens – wundere ich mich wirklich? – dass bei Schlamm und Nässe, selbst bei Schneematsch, weisse Klamotten auf dem Lauf-Steg weiss bleiben. Sämtliche anderen Wege beschichten Laufkleidung in Nullkommanix mit Dreck. Was einst Weiss war, nimmt nach wenigen Minuten eine dreckverkrustete Farbe an. Nicht so am Lauf-Steg. Strahlende Farben bleiben strahlend. Gibt es einen unentdeckten physikalischen Effekt, der nur auf Lauf-Stegen wirkt?
Lasst es mich anders formulieren: Lauf-Steg Läuflinge sehen nicht nur besser, vor allem aber aufwändiger aus als Läuflinge auf Laufstrecken. Oder Laufstrecken-Läuflinge, die auf Lauf-Stegen laufen.

Was mich am meisten erstaunt: Lauf-Steg Läuflinge scheinen nicht zu schwitzen. Man verstehe mich nicht falsch, natürlich zeigt ihr Antlitz Zeichen der Anstrengung. Ich meine gar, bisweilen gerötete Wangen und einmal sogar einen leichten Feuchtigkeitsfilm bemerkt zu haben. Aber sie sehen kaum angestrengt aus. Vielleicht fehlt auch der Impuls für einen ausgemergelt-gequälten Blick. Ich könnte direkt neidisch werden.

Und so bilden der Lauf-Steg und seine Läuflinge ein symbiotisch wirkendes Gesamtkunstwerk, eine im Sport verdichtete Win-Win Situation. Das Leben des Lauf-Stegs ist schön.

Ein bis zwei Mal im Jahr erlebt der typische Lauf-Steg eine Wandlung. Zwei Wochen lang kommen mehr und mehr Läuflinge zu ihm. Es ist die Zeit vor dem großen Tag des Citylaufs. Die Schönen werden noch schöner. Läuflinge jedweder Ausrichtung stellen sich ein, um herauszuholen, was sie in fünfzig Wochen versäumt haben. Und weil sich hierunter viele wenig gestählte, und kaum gestylte, Körper mischen, sinkt die durchschnittliche Schönheit des Gesamtkunstwerkes Lauf-Steg sogar ein wenig. Am Tag nach dem Event: Ruhe.
Nach zwei, drei weiteren Tagen gehört der Lauf-Steg wieder seinem angestammten Publikum. Das ist sehr schön.