Wie nähere ich mich einem Phänomen an? Besonders einem Phänomen, das sich offenkundig zu einem Lieblingslauf entwickelt hat? Vielleicht, indem ich mir zunächst den Anschein von Sachlichkeit gebe: Am letzten Septemberwochenende des Jahres 2012 fand der KuSuH, ein Trail über 100 Meilen, in und um Oberderdingen statt. Nach den gelungenen Veranstaltungen 2010 und 2011 zog der KuSuH auch dieses Jahr wieder hoch zufriedene Läuflinge in den schönen Kraichgau.
Genug der Sachlichkeit, nun zur Sache.
Ich sehe den KuSuH als Gesamtkunstwerk. Schon die Anmeldeprozedur hebt den Trail von anderen Veranstaltungen ab. Email schreiben, gar ein Online-Formular? Vergesst es, Schneckenpost ist angesagt! Lakonischer Kommentar hierzu auf der Website: „wir kriegen halt gerne Post“. Dazu muss man wissen, dass Wolfgang Höfle, Organisator des KuSuH, notorischer Computerhasser ist. Und so schreiben die Anwärter Briefe und Postkarten. Dass dies eine Kunst ist, die sich wieder zu entdecken lohnt, zeigen zwei einfallsreiche Bewerbungen, die in diesem Jahr zur allgemeinen Bewunderung ausgestellt waren.
Klar, ein Stadtmarathon mit tausenden Teilnehmern würde schnell an Grenzen stoßen, Wolfgang lädt exakt 30 (dreißig!) Läuflinge zum KuSuH ein, entsprechend schnell bildet sich eine Warteliste. Und so stellt das Briefverfahren einen liebenswerten Anachronismus dar. Wer mag, kann eine Antithese zu unserer schnelllebigen Zeit hineininterpretieren, und in Wolfgang den Antipoden zu Leuten wie Steve Jobs sehen. Ja, auch der hat Charisma (Steve, meine ich). Ich finde es zur Abwechslung cool, zu Papier und Füller zu greifen. In schöner Schrift schreiben! Stil und Ausdruck praktizieren!
Weil ein Gesamtkunstwerk einen Künstler braucht, gibt es Wolfgang. Genau, das ist der ohne Computer. In Oberderdingen wohnend, kennt er die Gegend Kraichgau und Stromberg und Heuchelberg (womit die Frage beantwortet ist, was denn „KuSuH“ bedeutet) wie seine Westentasche. Und so fand er nicht nur für die Premiere eine wunderschöne Strecke, es gelingt ihm auch Jahr für Jahr weitere Highlights in den KuSuH einzubauen. Wobei der Begriff „Highlight“ nicht zwingend eine Vereinfachung für die Läuflinge bedeutet. Nachdem er 2011 den Hard Rock Trail erfolgreich absolvieren konnte, ließen ihm die Flussdurchquerungen nicht eher ruhen, als bis wenigstens eine kleine Bachdurchquerung für nasse Füße sorgen konnte. Das war 2011. Für 2012 blieb es dabei, jedoch ging das Gerücht durchs Feld, Wolfgang hätte in Reichweite liegende Trittsteine eigenhändig aus dem Bachbett entfernt. Wer Wolfgang kennt, weiss, dass man sein Versprechen, 2013 zusätzlich ein tieferes Gewässer eingeplant zu haben, ernst nehmen muss. Vielleicht hat er eine Biberfamilie unter Vertrag genommen.
Womit wir bei den Tieren wären. Die 100 Meilen führen durch etwas, das
Wolfgang als „Wildschwein-Wellness-Gebiet“ bezeichnet. Er selbst fand sich bei einer Erkundung mitten in einer Rotte wieder, andere Teilnehmer berichteten von hurtig quer zum Weg spurtenden Sauen, wie sie der Waidmann nennt.
Diese Information gibt Wolfgang anlässlich des Briefings am Vorabend des KuSuH preis, eine Veranstaltung, die angesichts seines komödiantischen Talents meiner Meinung nach selbst Nichtläuflingen einen kurzweiligen Abend bescheren kann.
Ganz wichtig, ich kann es gar nicht genug würdigen: Wir kriegen beim Briefing die Streckenmarkierungen zu sehen! Man erklärt uns, wo sie stehen („immer in Laufrichtung rechts. Rechts, nicht links!“).
Selbst der Start bedarf einer Erwähnung (sowohl beim Briefing als auch hier). 8 Uhr morgens laufen Läuflinge los. Soweit nichts Besonderes. Aber: es gibt keinen Startschuss. Indes beginnt exakt Acht Minuten vor 8 Uhr die badische Nationalhymne, rockmusikalisch gebildete Menschen erkennen beim ersten Akkord „Stairway to Heaven“ von Led Zeppelin. Ordentlich gebrieft, gilt es, nach dem Ende des Stückes selbstständig los zu laufen. Mithin (ich meine, ich hatte es in einem anderen Beitrag schon geschrieben) besteht das Startsignal im Ausbleiben, bzw. dem Ende eines Geräusches.
Wo hat man das schon?
Und wo findet man eine Verpflegungsstelle im Wohnzimmer? Mal ehrlich: würdet ihr euer in eurer guten Stube dreißig Trail-Läuflinge betreuen? Mal tagsüber, mal mitten in der Nacht (die Laufrichtung wechselt von Jahr zu Jahr)? Natürlich bei jedem Wetter. Das bedeutet: es kann dreckig werden. Richtig dreckig, die Motorik selbst der rücksichtsvollsten Läuflinge leidet nach hundert Kilometern auf den Beinen.
Suppe kochen, Kuchen bereitstellen – und nach der Veranstaltung den geschundenen Parkettboden wieder saubermachen? Nein?
Nun, Jutta und Georg tun genau das.
Ihr erkennt: der KuSuH ist eine sehr familiäre Veranstaltung. Kleines Teilnehmerfeld, viele Wiederholungstäter aus der Ultraszene und das unglaublich motivierte Helferteam machen den Reiz des KuSuH aus.
Bevor ich weiter Euphorie verbreite: an der magischen Zahl „30“, welche die Größe des Teilnehmerfeldes bestimmt, wird sich so schnell nichts ändern. Und bei der Vergabe der Plätze herrscht strikte Fairness. Stichtag ist der 1.Februar, was vorher eingeht, wird nicht berücksichtigt. Die ersten dreißig Bewerbungen (per Post, ihr erinnert euch?) lädt Wolfgang ein, der Rest kommt auf die Warteliste. Dieses Jahr standen 28 Läuflinge am Start, es wäre sogar noch Platz gewesen. Ich glaube, ich brauche nicht extra zu sagen, dass auch die Einladungen per Post kommen. Ein persönliches Schreiben für jeden. Familiär eben.
Ach ja: ich bin nach nur 73 Meilen ausgestiegen. War leider nicht mein Wochenende. Irgendwie doch, denn wenigstens war ich beim KuSuH.
Das ist jener Hundertmeiler mit Charisma beim Briefing, Luftgitarre vor dem Start, Verpflegung im Wohnzimmer, Wildschweinen, Jägern, Natur, Wasser und unheimlich viel Spaß!