Läufst du mit Puls?

Irgendwann im Sommer letzten Jahres. Ich bin auf einer lockeren Runde unterwegs, die Sonne scheint, Vögel zwitschern. Vollkommen entspannt. Bis, ja bis mein Blick auf die Uhr fällt. Pulsschlag 0, Null, Zero, nix! Nachdem ich den ersten Schreck verarbeitet hatte, besann ich mich. Tot sein entpuppte sich als weniger einschneidend, als ich bis dahin erwartet hatte.

„Läufst du mit Puls?“ Eine irritierende Frage, denn ich unterstelle bei den meisten lebenden Menschen schlagenden Puls. Auch beim Laufen. Die Vorstellung man könnte sich dieses aussuchen, wirkt befremdlich auf mich. Man könnte dann antworten: „Nein, ich bin schneller, wenn ich meinen Herzschlag während des Sports abstelle.“ Oder wie?

Genug der Frotzelei, natürlich will der Fragesteller nicht wissen, ob das Herz beim Laufen schlägt. Er interessiert sich dafür, ob der Läufling stets die mannigfaltigen Überwachungsfunktionen von Polar, Garmin etc. nutzt. Mitterweile, so scheint mir, ist die Frage selten geworden. Man geht wohl davon aus, dass es selbstverständlich ist, „mit Puls“ zu laufen. Das heißt: mit dem Uhrenteil.

Aber, warum nicht das Thema „Pulsuhr“ ernsthaft hinterfragen? Dass ich nicht immer mit Uhr laufe, hatte ich im Artikel Ultra ohne Uhr beschrieben.
Und die Herzfrequenz?
Brauche ich sie immer?
Was fange ich damit im Träning an? Und, vor allem: wann?
Um Licht in mein persönliches Dunkel zu bringen, greife ich drei Funktionen meines multifunktionalen Handgelenkscomputers heraus: aktueller Puls und jeweils den Piepton für Unter- und Obergrenze.

Als ich eine erste Pulsuhr, ich glaube von Ciclo, mein Eigen nannte, tränierte ich im hügeligen Gelände. Was tut mein Puls, wenn es bergauf geht? Er steigt. Bergab fällt er. Das ist seine Natur. Meine Ciclo hatte aber nicht die Informationen zur Verfügung, die meine Augen lieferten, nämlich, dass ich nicht zu schnell, sondern nur einen kurzen Anstieg hinaufrenne. Dem armen Ding blieb nur, mit mit Pieptönen zu warnen. Irgendwann war ich davon so genervt, dass ich Puls 40 als Unter- und 240 als Obergrenze einstellte. Deaktivieren ging leider nicht.
Es ließe sich wohl eine Lösung mit GPS-Höhendaten denken, die Anstiege und Gefälle berücksichtigt, um Pulsgrenzen anzupassen. Andererseits: wenn ich als Läufling wirklich ernsthaft „nach Puls“ träniere, müsste ich Anstiege hinaufkriechen, Gefälle….nun, ihr könnt es euch denken. Will ich das? Ich persönlich: nein.
Ich habe für mich entschieden, den Pulsbereich eher mit Körpergefühl einzuhalten (klappt ganz gut), oder, siehe oben, einfach zu ignorieren, wenn ich eine Grenze kurz überschreite. Auch wenn es flach ist.

Was ich gerne nutze, ist der Momentanpuls. Klar ist: er schwankt. Im Zusammenhang mit dem Ergebnis einer Leistungsdiagnostik kann ich damit prima tränieren, mit etwas Erfahrung deckt sich dann das Körpergefühl mit dem Zielbereich. Der ist wahrlich breit genug!
Trotzdem gefällt es mir, wenn ich die Zahl sehe, um mich zu überwachen. Das will ich nicht immer, nicht in jedem Träning – und nicht bei jedem Wettkampf. Ein gemütlicher, langer Sauerstofflauf. Ich trabe entspannt vor mich hin, genieße mich, die Landschaft, die Bewegung. Der Puls kann nur in einem niedrigen Bereich liegen. In welchem Pulsbereich bewege ich mich? Mir egal.

Ganz anders liegt der Fall, wenn ich in einer anderen Pulszone laufen möchte, um meinen Körper an höhere Intensität anzupassen. Hier wären das die Bereiche 3 und 4 (ihr könnt auch Begriffe finden wie Grundlagenausdauer 2 (GA 2) bzw. Intensivausdauer 1 (IA 1). Je nach Sportart und Quelle geistern übrigens weitere Bezeichnungen herum, gibt es andere Einteilungen. Lasst euch davon nicht verwirren.).
In solchen Fällen, wenn ich zu Träningszwecken wirklich in einem definierten Pulsbereich laufen will, schaue ich gerne auf die Uhr, um mich selbst zu prüfen. Nicht nur das. Gerade bei höherem Tempo redet man sich nach einer gewissen Zeit allzu leicht ein, man sei im Zielbereich. Ganz unbewusst versucht man jedoch, es sich doch ein wenig gemütlicher zu machen….wir Menschen sind eben Freunde der Komfortzone. Damit das nicht geschieht, hilft mir der Blick auf die Uhr.

„Läufst du mit Puls?“
„Wenn ich ihn wissen will, ja.“

Betrachte Herzfrequenzmesser als Werkzeug, sage ich mir: ich nehme das Werkzeug mit, das ich benutzen will. Schließlich schleife ich auch nur dann eine Bohrmaschine mit, wenn es ein Loch zu bohren gilt.

Portrait HoneyBadgers

Honey Badgers
UTMB 2012
Honey Badgers
(v.l.n.r.: Francisco, Greg, Phil, ich, Ray, Patrick, Tim)

„We’re Honey Badgers. We don’t give a shit.“ bekam ich zur Antwort, als ich vor dem Start zum Ultra Trail du Mont Blanc, eine Gruppe von Leuten mit seltsamem Logo auf dem Shirt fragte, welch komische Vögel sie denn seien.
Honey Badgers also. Gekennzeichnet durch die Eigenschaft – wie übersetzt man das am besten?, dass ihnen alles dort vorbei geht, wo wir Läuflinge gut tränierte Muskeln haben.

Wer oder was sind also die Honey Badger?

Dazu fragen wir uns zunächst: was ist ein Honey Badger? Dabei handelt es sich um den Honigdachs. Hinter dem gemütlich klingenden Namen verbirgt sich ein überaus robustes, furchtloses Vieh in Dachsgröße, auf dessen Speisekarte sogar Kobras stehen. Auf youtube finden sich beeindruckende Videos von der Nahrungsaufnahme.
Und hier schließt sich der Kreis, denn die Gründung der Honey Badger vollzog sich, als Ultraläufer bei einem gemütlichen Frühstück in Leadville, Colorado (USA) mit diesem Tier verglichen wurden.
Ich zähle die uns zugeschriebenen Eigenschaften gerne auf, es ist einfach zu schön. Lasst es euch auf der Zunge zergehen.
Ultraläuflinge und der Honigdachs ähneln sich, denn beide sind: tough, mutig, stark, furchtlos, unermüdlich, intelligent (!), sie essen alles, und, vor allem: ihnen geht alles am A… vorbei. Das arme unfähige Tierchen kann einem direkt Leid tun, denn wir wissen natürlich, das Ultraläuflinge obendrein süß, sexy, unwiderstehlich, charmant, wasserdicht, … und bescheiden sind.
Jedenfalls fand das Frühstück statt im Jahre 2011.

Zwischenzeitlich, wir schreiben das Jahr 2012, war aus der Frühstücksrunde ein lockerer Haufen von vielleicht zehn, zwanzig Ultraläuflingen geworden, zu welchen sich die Support Crew addiert. Sie treffen sich zu Läufen – wie eben dem UTMB dieses Jahr, besuchen und unterstützen sich gegenseitig. Gastfreundschaft wird bei den Honey Badgern groß geschrieben. Platz vorausgesetzt, wird man Honey Badger doch nicht den Unannehmlichkeiten eines Hotels aussetzen. Viel besser ist es doch, bei Freunden zu übernachten.

Die Gründungsgeschichte bringt es mit sich, dass Honey Badger hauptsächlich Amerikaner aus verschiedenen Staaten der USA sind. Zum harten Kern, den ich in Chamonix traf zählen unter anderem Tim und Ray aus Colorado, Curt aus Ohio, Phil aus Tennessee, Greg (Arizona), und Francisco aus Texas. Zwischenzeitlich waren, auch europäische Marathonis hinzugekommen. Seit dem UTMB ist der erste europäische Ultraläufling dabei: ich.

Insofern könnte der Slogan modifiziert werden: „HoneyBadgers. Not giving shit worldwide. Since 2012.“

Honey Badger
Honey Badger...

Honey Badger
Honey Badger
Edition UTMB 2012

Honey Badgers click here for the English version.

beinah off topic, absolut genial

Ich hatte neulich im Artikel Parcours Training: cooles Video auf Youtube auf einen Youtube-Clip verwiesen, der ein Parcoursteam beim Träning zeigt. Reichlich Inspiration für die eigene Träningsgestaltung.
Die Artistik, die dieser Herr hier zeigt, ist vom Laufen noch ein Stück weiter entfernt, Anschauen lohnt sich dennoch.

Der Titel verspricht den beeindruckendsten Menschen auf dieser Erde zu sehen. Ein hoher Anspruch, den ich nicht beurteilen kann. Ich sage nur: WOW!
Zum Schluss des Films macht er es sich in einem Campingstuhl gemütlich. Das hat er wirklich verdient, wie der gemeine Läufling auch, wenn er einen Wettkampf erfolgreich hinter sich gebracht hat. Die meisten von uns pflegen indes eine etwas andere Art, sich zu setzen. Hier geht’s zum Film

Abkürzungsfimmel

Manche Leute haben eigenartige Neigungen. Selbst Läuflinge treiben bisweilen Dinge, die dem Außenstehenden unverständlich oder nicht normal erscheinen.
Will er sich jetzt darüber auslassen, was normal ist und was nicht? Keineswegs. Im Gegenteil, ich gedenke, ein bemerkenswertes Beispiel für eine „eigene Art“ zu skizzieren, denn, manche Menschen haben überaus komische Anwandlungen.

René (Name geändert) ist solch ein Mensch. Beschäftigt ihn ein fesselndes Buch, wird er ein gutes Viertel der mittleren Seiten überspringen. En Bloc. Man muss sich das etwa so vorstellen: er liest bis Seite zweihundertfünfzig, greift hundertfünfzig Seiten, um dann auf Seite 400 mit der Lektüre fortzufahren.
Isst René sein Lieblingseis, verschmäht er eine von drei Kugeln. Und als er neulich seinen dreiwöchigen Traumurlaub angetreten hat, überraschte es mich nicht, ihm nach zwei Wochen wieder auf der Straße zu begegnen.
„Hat es dir nicht gefallen?“
„Es war traumhaft, weshalb fragst du?“

Mir schwante Unheilvolles, als René mir vor Monaten kundtat, er hätte sich zum CityMarathon angemeldet. Mit vor Stolz geschwellter Brust, auf der die Finishermedaille prangte, berichtete er mir von seinem ersten Marathon. Akribische Vorbereitung habe ihm ein super Ergebnis ermöglicht. Ich gebe seine Erzählung zusammengefasst wieder, vielleicht fühlt sich ja jemand inspiriert…oder schockiert, je nach Neigung.

Bei Kilometer Vier nämlich schlug sich René ins Gebüsch, denn auf der anderen Seite befindet sich eine Haltestelle der Straßenbahn, welche ihn neun Kilometer weiter wieder ausspie. Durch solcherlei perfekte Abstimmung von Lauftempo und Fahrplan hatte sich René in die vordere Hälfte des Feldes vorgearbeitet.
Während sich der nächste Abschnitt auf der Strecke weitgehend ereignislos abspielte – abgesehen davon, dass René mehr als dreihundert Plätze zurückfiel, hatte sich ein gut tränierter Freund bereitgemacht, um am vereinbarten Treffpunkt bei km 23 Renés Startnummer und Chip zu übernehmen. Da zufällig aufgenommene Fotos die Leistung des Sportlers nicht schmälern sollten, trugen beide gleiche Kleidung. Auch der Kopf wurde nicht vergessen, zwei Buffs sorgten für verblüffende Ähnlichkeit.

Des Freundes stählerne Waden ließen René auf den folgenden zwölf Kilometern an hunderten der zunehmend träger trabenden Konkurrenten vorbeifliegen, bis ein kurzer Stop an geeigneter Stelle den neuerlichen Rollentausch herbeiführte. René war zwischenzeitlich per Klapprad unterwegs gewesen.

Gute Ortskenntnis gestattete es ihm, den Streckenteil zwischen km 36 und 40 auszulassen, wonach er, erstaunlich frisch wirkend, die beiden verbleibenden Kilometer bis ins Ziel zurücklegte. Lohn der Mühe: 3:06:21 Stunden, Platz 1017.

Kennt ihr auch jemanden wie René? Ich gebe zu, dass ich ihn noch nicht lange kenne, weil ich ihn mir ausgedacht habe. Anscheinend gibt es aber tatsächlich Athleten mit Abkürzungsfimmel. Ich kann’s nicht nachvollziehen. Warum sollte ich weniger (Kilometer) in Anspruch nehmen, als ich gekauft habe? Wenn’s schon nur 42,2 sind, mach‘ ich die doch nicht noch kürzer!

Vermutlich haben wir es mit einer Art Optimierungsdrang zu tun. Die Renés dieser Welt streben danach, jeden Kilometer effektiv gelaufener Strecke möglichst teuer zu bezahlen. Für seine 65 Euro Startgebühr kann er rund 1,50 Euro pro km loswerden, wenn er den Marathon komplett laufen würde. Tatsächlich waren es jedoch nur ca. 17 km, macht also beinahe vier Euro für jeden Kilometer!

Oder will René Marathonläufer sein, ohne Marathon zu laufen? Kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen…

Das Buch zum Shirt

Früher war alles weniger. Vielleicht mehr Lametta, aber, global gesehen, insgesamt weniger. Wenn man ein neues Laufshirt kaufte, bekam man, nun, eben ein Shirt. Ohne Optionen. Und weil das alle so taten, entstand bei den Herstellern der Druck, besser oder wenigstens anders zu erscheinen als die anderen. Wie soll man sich von der Konkurrenz abheben? Mit einer netten Dreingabe vielleicht?
Als ich jüngst ein neues Laufleibchen erwarb, lag diesem ein Buch bei! Gut, es war kein vornehmer, in Schweinsleder gebundener Foliant, nichmal Hardcover. Wenn ich es recht bedenke, hatte das Buch überhaupt keinen Einband. Aber ich will nicht unken, als Leseratte freue ich mich über ein nettes, achtseitiges Buch.
Es ist ein überaus lehrreiches Werk, welches man mir mitgab, denn ich weiss zum Beispiel, dass besagtes Leibchen komplett aus Polyester hergestellt wurde. Das erfreut mich, denn ich will weder mit irgendeinem Bastard aus Polyester und Elastan, noch mit irgend so einem Plastikkram herumlaufen. Stattdessen: einhundert Prozent feinstes Polyester! So beruhigt, bleibt die sogenannte „Kaufreue“ aus. Ein kluger Schachzug des Herstellers.

Des Weiteren gibt man mir Ratschläge, wie das Shirt denn zu waschen und zu pflegen sei. Ich soll es bei dreißig Grad Celsius waschen, nur auf Weichspüler muss ich verzichten. Das ist schade, denn ich mag gerne weiche Klamotten an meinem zarten Leib. Zum Ausgleich zeigt der Produzent sein Herz für jene Läuflinge, die lieber laufen als waschen, denn Maschinenwäsche ist vollkommen in Ordnung. Sagt das Symbol. Wenn ich es eilig habe, kann ich sogar schleudern, und in den Trockner darf es auch. Toughes Teil, das muss an dieser Stelle mal gesagt werden!
Chemische Reinigung geht gar nicht, dafür ist es gestattet, mit dem Bügeleisen bei niedriger Temperatur etwaige Knitterfalten sanft zu glätten. Auch daran sehe ich, dass sich die Produktplaner intensiv mit den Bedürfnissen ihrer Kunden beschäftigt haben. Denn natürlich will kein Läufling ungebügelt durchs Ziel. Mir ist das nicht so wichtig, aber es ist doch schön, zu wissen, dass ich Bügeln könnte, wenn ich denn wollte.

Ein großes Manko des Werkes besteht meiner Ansicht nach darin, dass die Autoren sich nur unvollständig über die Art der Trocknung äußern. Sie sprechen zwar den Wäschetrockner an, aber was ist mit anderen Trockenarten? Kann ich es auf die Leine hängen oder muss es liegen? Wie ist es mit Sonne: darf ich mein Leibchen in der Sonne trocknen? Ich nehme zwar an, dass mir alle Möglichkeiten offen stehen, trotzdem wäre mir irgend eine Information dazu willkommen. Meinetwegen kann man ja ein Symbol anfügen, welches sagt „mach es, wie du es für richtig hältest, dem Produkt ist das egal“.
Hatte ich überhaupt erwähnt, dass diese Pflegeanleitung nicht in Textform, sondern in einer schönen, leicht zu entschlüsselnden Symbolsprache abgefasst ist?
Nun, jetzt wisst ihr es.

Und jetzt kommt das Beste: das Buch leistet einen Beitrag zur Volksbildung, denn es ist mehrsprachig verfasst! Sämtliche Angaben kann ich auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch nachlesen. Ich weiss jetzt, was Polyester auf Japanisch bedeutet, und kann „Made in China“ in kyrillischen Buchstaben schreiben.
Wer weiss, wofür es gut ist. Vielleicht komme ich bei einem Ultratrail mal mit einem Malaien ins Gespräch, und irgendwann geht uns das Thema aus. Betretenes Schweigen. Unangenehm für beide. Bis uns einfällt, Waschtipps in seiner Muttersprache Bahasa Malayu auszutauschen: „Bügelst du deine Armlinge?“ „Ja, wenn ich sie nicht im Trockner hatte.“ „Sei aber vorsichtig mit der Temperatur. Ich kann meine nur relativ kühl glätten.“

Bei einer solchen Fülle an Wissen ist es jammerschade, dass das Buch nicht in einer Form beiliegt, die es mir gestatten würde, es gemeinsam mit anderen Werken industrieller Prosa in ein Regal zu stellen. Denn das Buch ist am Shirt angenäht. Sehr gut angenäht. Ich meine keine Fadenheftung, sondern ich rede davon, dass es mit der Seitennaht in Taillenhöhe vernäht ist.
Und das bedeutet, ich muss es entfernen. Einerseits aus Gewichtsgründen, denn bei einem luftig-leichten Shirt fällt ein mehrseitiges Buch ins Gewicht. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Außerdem piekst es.
Manche Hersteller setzen auf gewebeverstärktes Papier, was sich zwar für ein Buch ziemt, dafür aber die Haut peinigt. Mein spezielles Leibchen zählt zu den Premiumprodukten, und hat folglich ein Buch aus Stoff, dessen raue Kanten unangenehm reiben. Also weg damit, ich will schließlich nicht leiden.
Dieses „weg damit“ ist leichter gesagt, als getan, denn das Buch wurde in der Fabrik mit der Seitennaht sehr sorgsam befestigt. Ergo kostet es mich das Entfernen einige Mühe. Wenn ich die Hauptnaht nicht beschädigen will, schneide ich zunächst das Buch entlang der Naht ab. Es bleibt ein rechteckiger Rest in und unter der Naht. Weil ein Rechteck naturgemäß Ecken hat, pieksen diese ebenfalls. Somit geht der Griff zur Nagelschere, um die Ecken abzuschrägen. Immer mit der unter allen Umständen zu schützenden Naht im Hinterkopf. Nur keinen Faden durchschneiden! Nach getaner Arbeit stelle ich fest, dass ich aus vier Ecken nunmehr derer acht gemacht habe. Weniger spitz, aber immer noch fühlbar. Also versuche ich, eine Rundung hinzukriegen. Eine halbe Stunde und zwei, drei mittelschwere Tobsuchtsanfälle später habe ich ein wunderbares Laufshirt.

Fertig. Zeit für erbauliche Lektüre.

Nachdem ich das herausgetrennte Buch ein paar Mal durchgelesen hatte, warf ich es schlussendlich weg. Nicht ohne ein schlechtes Gewissen, denn ich anerkenne die Mühe, die man sich gemacht hat. Ohne das Buch würde ich mein neues Leibchen einfach in die Waschmaschine geworfen haben, hätte diese auf 30° gestellt, und das Ding später zum Trocknen auf die Leine gehängt. Ohne das Buch könnte ich nicht mehrsprachig über Textilpflege parlieren. Ohne das Buch wäre mir nicht bewusst, welch globale Präsenz die Marke meines Vertrauens hat. So aber gehe ich sehr bewusst mit meiner Kleidung um. Ich glaube, ich könnte mich noch mehr mit ihr identifizieren, wenn man dem Beispiel von Woolpower folgen würde. Der schwedische Hersteller schreibt bei jedem Kleidungsstück den Namen der Näherin dazu, die es zusammengenäht hat. Und, übrigens: nennt bitte noch den Verfasser. Auch wenn es wohl nicht zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels reicht, selbst Autoren von Gebrauchsliteratur haben ein Recht auf Öffentlichkeit.

Zwischenzeitlich gibt es bei den meisten Marken Bücher, wenn man Laufkleidung kauft. Deshalb müssen sie sich etwas Neues einfallen lassen, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Wie wäre es zum Beispiel mit einem passenden Regal?