Das neue Küchengerät

Ich möchte an der Stelle vor der Lektüre dieses Artikels warnen. Er hat nichts, allenfalls ganz am Rande mit Sport, noch weniger mit Laufen zu tun. Und doch – in gewisser Weise würde ich ihn ohne Sport nicht schreiben können. Vor allem nicht ohne Kettlebell. Um die geht es übrigens auch nicht, zumindest in erster Linie. Vorrangig wurde ich beim Kochen darauf aufmerksam, dass Sportgeräte manchmal auch Küchengeräte sind.

Kennt ihr geriebenen Käse aus der Packung? Jenes Zeug, das aussieht wie Käse, schmeckt wie Käse, und vor allem in einer unsäglich praktischen, immer wieder verschließbaren Tüte beim Discounter des Vertrauens feilgeboten wird?
Fertig gerieben streut man eine kleine Handvoll zwecks Krustenbildung auf Aufläufe. Weil nun eine Packung mehrere “halbe Handvoll” Käse enthält, bewahren wir ihn im Tiefkühlfach auf. Das geht recht lange, was unweigerlich dazu führt, dass sich Feuchtigkeit ansammelt, um sich mit dem Käse in Form von Eisflocken zu verbinden.
Mit etwas Pech – Pech, das ist eine einfache Umschreibung für “ich bin zu faul, daüber nachzudenken, welche physikalischen / klimatischen Effekte wirken – friert der Käse zu Klumpen zusammen.

Normalerweise zerbröselt so ein zusammengefrorenes, verklebtes Etwas schon beim Hinsehen. Selten, aber wirklich nur sehr selten muss ich sanfte Gewalt anwenden.
Alles ganz leicht.
Bis gestern.

Ziehen, drücken, verdrehen mit den Händen: nichts. Der Klumpen bleibt.
Klopfen, hämmern mit dem Stiel eines Kochlöffels? Fehlanzeige.

Hinweis des Autors: Achtung, wir kommen zum sportlichen Teil!

Aber nicht mit mir.
Flugs begab ich mich zu meinen Kettlebells (Hinweis des Autors: endlich Sport!), den sich in a) der Tüte und b) Sicherheit wiegenden Klumpen in der Hand.
Sein selbstgefälliges Grinsen im Blick, zwang ich in zu Boden (ich legte ihn hin), bevor ihm sechzehn Kilogramm Kettlebell, die ich mehrmals aus ein paar Zentimetern Höhe hinabfallen ließ, den Garaus machten.

Sportgeräte sind eben manchmal auch Küchengeräte.

Krieg um Kuchen

Die heftigsten Kämpfe der Menschheit werden weder um Öl, noch um Land oder Wasser ausgetragen. Nein, am erbittertsten streiten Menschen um – Kuchen. Besonders dann, wenn sie vorher Sport getrieben haben.

Vor einem Jahr, liebe Läuflinge, nahm ich an einem jener wunderschönen, kleinen Marathons teil, die von einem kleinen Verein in einem kleinen Ort liebevoll organisiert werden. Ein besonderer Reiz solcher Läufe ist die reich gefüllte Kuchentheke, die auf des Läuflings hungrigen Magen wartet. Selbstgebackene Kuchen!

Meine Vorfreude auf ein, nein, mindestens zwei leckere Stücke nebst Kaffee steigerte sich im Verlaufe des Laufes derart, dass ich auf den letzten fünfzehn Kilometern jedwede Nahrungsaufnahme verweigerte. Ich kann euch sagen, die Aussicht auf Torte ließ mich auf dem Hungerast herrlich schaukeln!
Durchs Ziel, flugs geduscht und hinein in die Turnhalle, wo mir die Aussicht auf Köstlichkeiten das Wasser im Munde zusammen laufen lies.
Hin zur Kuchentheke, und: nichts. Gerade mal drei zerbröselte Stücke Sandkuchen befanden sich noch auf dem ansonsten völlig verwaisten Tisch.
Dann erblickte ich die Bündel. Hinter den netten Damen am Stand türmten sich Gebäckpäckchen. “Du hättest heute morgen auch reservieren sollen, das machen viele. Die nehmen sich dann was mit für zuhause.”. Für zuhause. Aha. Daheim hocken dann fette Verwandte auf der Couch, um sich meinen Kuchen einzuverleiben. Ja, es ist mein Kuchen, denn ich bin schließlich dafür gerannt! Verfressenes Pack!

“Nicht mehr mit mir, Freunde.” schwor ich mir an jenem Tag. Und begann, an meinem Plan zu arbeiten, der ein Jahr später zur Ausführung gelangte. Statt Steffny und Marquardt las ich nunmehr SunZi (die Kunst des Krieges) und Clausewitz (vom Kriege).

Am Tag X hatte ich mit Schlafsack und Campingliege direkt vor dem Halleneingang übernachtet. Das verhalf mir zu einem entscheidenden Vorteil gegenüber allen, die sich eingebildet hatten, es würde ausreichen, sich um fünf Uhr morgens in die Schlange zu stellen. So sicherte ich mir ein erstes Kontingent, indem ich auf das bekannte Angebot, etwas “für später” zurücklegen zu lassen, zurückgriff. Drei Stücke Marmorkuchen, zwei Frankfurter Kranz, zwei Donauwellen und ein Schwarzwälder Kirsch, hübsch in Alufolie verpackt, bildeten den Grundstock.

Erfolgreiche Projekte sind immer eine Folge perfekten Timings, und so tränierte ich meinen Leib auf eine Zielzeit von genau 3:45 Stunden. Ungeduscht begab ich mich flugs zur Kuchentheke.
Selbstredend hatte ich mich nicht nur auf das Aroma eines ungeduschten Läuflings verlassen, die Laufklamotten waren in der zweiwöchigen Taperingphase im Dauereinsatz gewesen. Ohne Wäsche zwischendurch. Von einem biologischen Schutzschirm umgeben, konnte ich mich auf die so erzeugten Berührungsängste meiner Gegner verlassen. Nicht, dass sie das Feld komplett frei gemacht hätten. Nein, dafür war die abschreckende Wirkung meiner Waffe doch zu gering. Aber, und das war mein Ziel gewesen, einige olfaktorisch Hochbegabte blieben auf Distanz – und ich gewann Spielraum.
Sofort drängte ich mich in die vorderste Reihe, wo ich den zaghaften Versuch der Dame neben mir, zwei Tassen Kaffee und einen Muffin zu ordern, mit meiner Bestellung niederschrie. Ohne die Sorten klar zu benennen, wandte ich eine Methode an, die man in ähnlicher Form vom Börsengeschehen her kennt: Hindeuten und die gewünschte Menge brüllen. Drei Stücke Erdbeerkuchen und vier Käse-Sahne waren mein!
Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich den gierigen Blick eines Mannes, der unverkennbar auf die beiden letzten Stücke russischen Zupfkuchens gerichtet war. Geistesgegenwärtig griff ich einen Becher kochendheißen Kaffees, denn ich auf seinem Unterarm ausleerte. Sein Schmerzensschrei übertönte meine dahingemurmelte Entschuldigung – mein gleichzeitiges Lächeln entwaffnete den Gegner – den Tumult der Ersthelfer nutzte ich aus, um mir den kompletten Rest Zupfkuchen bereitstellen zu lassen. Im gleichen Moment sicherte ich mir durch gezieltes Anhusten den letzten Bienenstich.

Natürlich bildete ich nur einen kleinen Teil der großen Schlacht am Kuchenbuffet, und für einen unbeteiligten Beobachter muss es faszinierend gewesen sein, wie der Kampf hin- und herwogte. Nein, an der Kuchentheke gibt es weder Freund noch Feind, sondern nur lohnende Ziele.

Der Abtransport meines Fangs gestaltete sich vergleichsweise einfach, denn ich hatte eine im Rugby bewährte Technik eingeübt. So bereitete es mir keine Schwierigkeiten, den Kordon grimmig blickender Tortenjunkies zu durchbrechen.

Daraufhin deponierte ich die Beute im Auto, und gönnte mir unter der Dusche eine kleine Pause. Nun galt es, den am Morgen vorbestellten Kuchen abzuholen. Frisch eingekleidet, mit Mütze und sicherheitshalber einem falschen Bart ausgestattet, bahnte ich mir einen Weg durch die stöhnend am Boden liegenden Verlierer des Kampfes, um das Päckchen mit den Worten “ich hatte reserviert” unter ihren hasserfüllten Blicken seelenruhig entgegenzunehmen.
Lächelnd stieg ich über zertretene Brillen, Pappteller und etwas, das wie ein gebrochenes Bein aussah, während ich dem Ausgang entgegensteuerte.

Hatte ich erzählt, dass ich mich abermals einer leeren Kuchentheke gegenüber sah? Marathonläufer sind wirklich verfressen!

Das Buch zum Shirt

Früher war alles weniger. Vielleicht mehr Lametta, aber, global gesehen, insgesamt weniger. Wenn man ein neues Laufshirt kaufte, bekam man, nun, eben ein Shirt. Ohne Optionen. Und weil das alle so taten, entstand bei den Herstellern der Druck, besser oder wenigstens anders zu erscheinen als die anderen. Wie soll man sich von der Konkurrenz abheben? Mit einer netten Dreingabe vielleicht?
Als ich jüngst ein neues Laufleibchen erwarb, lag diesem ein Buch bei! Gut, es war kein vornehmer, in Schweinsleder gebundener Foliant, nichmal Hardcover. Wenn ich es recht bedenke, hatte das Buch überhaupt keinen Einband. Aber ich will nicht unken, als Leseratte freue ich mich über ein nettes, achtseitiges Buch.
Es ist ein überaus lehrreiches Werk, welches man mir mitgab, denn ich weiss zum Beispiel, dass besagtes Leibchen komplett aus Polyester hergestellt wurde. Das erfreut mich, denn ich will weder mit irgendeinem Bastard aus Polyester und Elastan, noch mit irgend so einem Plastikkram herumlaufen. Stattdessen: einhundert Prozent feinstes Polyester! So beruhigt, bleibt die sogenannte “Kaufreue” aus. Ein kluger Schachzug des Herstellers.

Des Weiteren gibt man mir Ratschläge, wie das Shirt denn zu waschen und zu pflegen sei. Ich soll es bei dreißig Grad Celsius waschen, nur auf Weichspüler muss ich verzichten. Das ist schade, denn ich mag gerne weiche Klamotten an meinem zarten Leib. Zum Ausgleich zeigt der Produzent sein Herz für jene Läuflinge, die lieber laufen als waschen, denn Maschinenwäsche ist vollkommen in Ordnung. Sagt das Symbol. Wenn ich es eilig habe, kann ich sogar schleudern, und in den Trockner darf es auch. Toughes Teil, das muss an dieser Stelle mal gesagt werden!
Chemische Reinigung geht gar nicht, dafür ist es gestattet, mit dem Bügeleisen bei niedriger Temperatur etwaige Knitterfalten sanft zu glätten. Auch daran sehe ich, dass sich die Produktplaner intensiv mit den Bedürfnissen ihrer Kunden beschäftigt haben. Denn natürlich will kein Läufling ungebügelt durchs Ziel. Mir ist das nicht so wichtig, aber es ist doch schön, zu wissen, dass ich Bügeln könnte, wenn ich denn wollte.

Ein großes Manko des Werkes besteht meiner Ansicht nach darin, dass die Autoren sich nur unvollständig über die Art der Trocknung äußern. Sie sprechen zwar den Wäschetrockner an, aber was ist mit anderen Trockenarten? Kann ich es auf die Leine hängen oder muss es liegen? Wie ist es mit Sonne: darf ich mein Leibchen in der Sonne trocknen? Ich nehme zwar an, dass mir alle Möglichkeiten offen stehen, trotzdem wäre mir irgend eine Information dazu willkommen. Meinetwegen kann man ja ein Symbol anfügen, welches sagt “mach es, wie du es für richtig hältest, dem Produkt ist das egal”.
Hatte ich überhaupt erwähnt, dass diese Pflegeanleitung nicht in Textform, sondern in einer schönen, leicht zu entschlüsselnden Symbolsprache abgefasst ist?
Nun, jetzt wisst ihr es.

Und jetzt kommt das Beste: das Buch leistet einen Beitrag zur Volksbildung, denn es ist mehrsprachig verfasst! Sämtliche Angaben kann ich auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch nachlesen. Ich weiss jetzt, was Polyester auf Japanisch bedeutet, und kann “Made in China” in kyrillischen Buchstaben schreiben.
Wer weiss, wofür es gut ist. Vielleicht komme ich bei einem Ultratrail mal mit einem Malaien ins Gespräch, und irgendwann geht uns das Thema aus. Betretenes Schweigen. Unangenehm für beide. Bis uns einfällt, Waschtipps in seiner Muttersprache Bahasa Malayu auszutauschen: “Bügelst du deine Armlinge?” “Ja, wenn ich sie nicht im Trockner hatte.” “Sei aber vorsichtig mit der Temperatur. Ich kann meine nur relativ kühl glätten.”

Bei einer solchen Fülle an Wissen ist es jammerschade, dass das Buch nicht in einer Form beiliegt, die es mir gestatten würde, es gemeinsam mit anderen Werken industrieller Prosa in ein Regal zu stellen. Denn das Buch ist am Shirt angenäht. Sehr gut angenäht. Ich meine keine Fadenheftung, sondern ich rede davon, dass es mit der Seitennaht in Taillenhöhe vernäht ist.
Und das bedeutet, ich muss es entfernen. Einerseits aus Gewichtsgründen, denn bei einem luftig-leichten Shirt fällt ein mehrseitiges Buch ins Gewicht. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Außerdem piekst es.
Manche Hersteller setzen auf gewebeverstärktes Papier, was sich zwar für ein Buch ziemt, dafür aber die Haut peinigt. Mein spezielles Leibchen zählt zu den Premiumprodukten, und hat folglich ein Buch aus Stoff, dessen raue Kanten unangenehm reiben. Also weg damit, ich will schließlich nicht leiden.
Dieses “weg damit” ist leichter gesagt, als getan, denn das Buch wurde in der Fabrik mit der Seitennaht sehr sorgsam befestigt. Ergo kostet es mich das Entfernen einige Mühe. Wenn ich die Hauptnaht nicht beschädigen will, schneide ich zunächst das Buch entlang der Naht ab. Es bleibt ein rechteckiger Rest in und unter der Naht. Weil ein Rechteck naturgemäß Ecken hat, pieksen diese ebenfalls. Somit geht der Griff zur Nagelschere, um die Ecken abzuschrägen. Immer mit der unter allen Umständen zu schützenden Naht im Hinterkopf. Nur keinen Faden durchschneiden! Nach getaner Arbeit stelle ich fest, dass ich aus vier Ecken nunmehr derer acht gemacht habe. Weniger spitz, aber immer noch fühlbar. Also versuche ich, eine Rundung hinzukriegen. Eine halbe Stunde und zwei, drei mittelschwere Tobsuchtsanfälle später habe ich ein wunderbares Laufshirt.

Fertig. Zeit für erbauliche Lektüre.

Nachdem ich das herausgetrennte Buch ein paar Mal durchgelesen hatte, warf ich es schlussendlich weg. Nicht ohne ein schlechtes Gewissen, denn ich anerkenne die Mühe, die man sich gemacht hat. Ohne das Buch würde ich mein neues Leibchen einfach in die Waschmaschine geworfen haben, hätte diese auf 30° gestellt, und das Ding später zum Trocknen auf die Leine gehängt. Ohne das Buch könnte ich nicht mehrsprachig über Textilpflege parlieren. Ohne das Buch wäre mir nicht bewusst, welch globale Präsenz die Marke meines Vertrauens hat. So aber gehe ich sehr bewusst mit meiner Kleidung um. Ich glaube, ich könnte mich noch mehr mit ihr identifizieren, wenn man dem Beispiel von Woolpower folgen würde. Der schwedische Hersteller schreibt bei jedem Kleidungsstück den Namen der Näherin dazu, die es zusammengenäht hat. Und, übrigens: nennt bitte noch den Verfasser. Auch wenn es wohl nicht zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels reicht, selbst Autoren von Gebrauchsliteratur haben ein Recht auf Öffentlichkeit.

Zwischenzeitlich gibt es bei den meisten Marken Bücher, wenn man Laufkleidung kauft. Deshalb müssen sie sich etwas Neues einfallen lassen, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Wie wäre es zum Beispiel mit einem passenden Regal?

Der Lauf-Steg

spraingt
Immer hübsch gestyled

In Heidelberg liegt er am Neckar. In Hamburg ist es die Alster, und in München der Englische Garten: der städtische Lauf-Steg.
Um zu erklären, was das eigentlich ist, muss ich weiter ausholen: ein Lauf-Steg ist mit der Lauf-Strecke eng verwandt, und doch von ihr grundverschieden. Vielmehr: Weg und die ihn nutzenden Läuflinge machen den Unterschied aus. Nein, nicht ganz korrekt: erst durch die Symbiose von geeigneter Lauf-Strecke und Läuflingen kann ein Lauf-Steg entstehen. Beginnen wir also damit, beide etwas näher zu betrachten.

Wir lenken unseren Blick zunächst zur Laufstrecke. Eine solche hat ein jeder Läufling. Mindestens eine, die meisten gar mehrere, womöglich findet sich eine Lieblingslaufstrecke darunter. Auf ihnen widmet man sich der körperlichen Ertüchtigung, man “läuft”. Sommers wie winters, bei Tag und bei Nacht, Regen, Sonnenschein, was das Repertoire der dominierenden Klimazone eben bietet. All das finden wir auch am Lauf-Steg, der meistens in Citynähe liegt, worin sich das erste Unterscheidungsmerkmal manifestiert. Niemals wird man einen Lauf-Steg irgendwo mitten im Nichts finden, weit draußen vor der Stadt, gar im Walde mit unbefestigten Wegen. Undenkbar ein Steg im Industriegebiet, inmitten hässlicher Wohnsiedlungen. Zwar ist der Lauf-Steg eindeutig ein Element der urbanen Lauf-Kultur, direkt in der geschäftigen Innenstadt geht allerdings nicht, dort fehlt die Natur als gestaltendes, Atmosphäre gebendes Element.
Ambiente ist unerlässlich, es ist das Outfit des Lauf-Steges.

Outfit ist übrigens auch das Schlüsselwort, welches unsere Aufmerksamkeit auf die dort hauptsächlich anzutreffenden Läuflingen ebnet. Natürlich wird ein Lauf-Steg – wie auch die Laufstrecke – von einem heterogenen Publikum genutzt. Auf dem Lauf-Steg bestimmen durchgestylte Läuflinge das Bild.
Unter- und Oberkörperkleidung, selbst die Socken und Schuhe bilden ein farblich abgestimmtes, harmonisches Ganzes. Johannes Itten würde sich, entspannt auf einer Parkbank sitzend (und jetzt erzähl’ mir keiner, es gäbe Lauf-Stege, an denen keine Bänke stehen), im offenkundigen Erfolg seiner Theorie der Farbtypen sonnen.
Das Styling macht natürlich nicht bei der Kleidung halt. Nein, Haare in und über dem Gesicht, Fingernägel und Make-Up sind ins Stylingkonzept integriert. Bevor jemand fragt: ja, für den Lauf-Steg schminkt man sich.
Ich wundere mich übrigens – wundere ich mich wirklich? – dass bei Schlamm und Nässe, selbst bei Schneematsch, weisse Klamotten auf dem Lauf-Steg weiss bleiben. Sämtliche anderen Wege beschichten Laufkleidung in Nullkommanix mit Dreck. Was einst Weiss war, nimmt nach wenigen Minuten eine dreckverkrustete Farbe an. Nicht so am Lauf-Steg. Strahlende Farben bleiben strahlend. Gibt es einen unentdeckten physikalischen Effekt, der nur auf Lauf-Stegen wirkt?
Lasst es mich anders formulieren: Lauf-Steg Läuflinge sehen nicht nur besser, vor allem aber aufwändiger aus als Läuflinge auf Laufstrecken. Oder Laufstrecken-Läuflinge, die auf Lauf-Stegen laufen.

Was mich am meisten erstaunt: Lauf-Steg Läuflinge scheinen nicht zu schwitzen. Man verstehe mich nicht falsch, natürlich zeigt ihr Antlitz Zeichen der Anstrengung. Ich meine gar, bisweilen gerötete Wangen und einmal sogar einen leichten Feuchtigkeitsfilm bemerkt zu haben. Aber sie sehen kaum angestrengt aus. Vielleicht fehlt auch der Impuls für einen ausgemergelt-gequälten Blick. Ich könnte direkt neidisch werden.

Und so bilden der Lauf-Steg und seine Läuflinge ein symbiotisch wirkendes Gesamtkunstwerk, eine im Sport verdichtete Win-Win Situation. Das Leben des Lauf-Stegs ist schön.

Ein bis zwei Mal im Jahr erlebt der typische Lauf-Steg eine Wandlung. Zwei Wochen lang kommen mehr und mehr Läuflinge zu ihm. Es ist die Zeit vor dem großen Tag des Citylaufs. Die Schönen werden noch schöner. Läuflinge jedweder Ausrichtung stellen sich ein, um herauszuholen, was sie in fünfzig Wochen versäumt haben. Und weil sich hierunter viele wenig gestählte, und kaum gestylte, Körper mischen, sinkt die durchschnittliche Schönheit des Gesamtkunstwerkes Lauf-Steg sogar ein wenig. Am Tag nach dem Event: Ruhe.
Nach zwei, drei weiteren Tagen gehört der Lauf-Steg wieder seinem angestammten Publikum. Das ist sehr schön.

Unnatural Running

Da ist er schon wieder. In irgendeinem Magazin. Ein weiterer Schuhproduzent treibt die Sau durchs dorf: Natural Running. Es ist DER Super-Hyper-Mega-Giga-Tera-Exatrend der letzten Tage, Wochen, Monate, was weis denn ich. Natural Running – natürliches Rennen. Ich dachte immer, Laufen sei an sich eine natürliche Art der Fortbewegung. Bei den meisten Leuten schaut es in der Tat natürlich aus; selbst Ultraläufer wirken, trotz oft eigenwilligem Schlappschritt, immer natürlich. Beinahe, als sei “Laufen” dem Menschen per Evolution in die Wiege gelegt worden. Aber ich lasse mich natürlich gerne eines Besseren belehren.

Das Gegenteil zum Natural Running ist wohl Unnatural Running. Wir Läuflinge haben das offenkundig vor der Entdeckung des natürlichen Laufens betrieben. Unnatural Running ruft in meinem Hirn sofort Monty Python’s Ministry of Silly Walks in Erinnerung. Eine gute Idee, so ein Ministerium für Unnatürliches Laufen, dessen Sinn und Zweck darin bestünde, unnatürliche Laufstile zu entwickeln, erforschen, ihre Auswirkungen auf Konjunktur und Mensch zu untersuchen. Sollte man dem Kanzleramt vorschlagen. Noch besser, der EU. Ein EU-Ministerium für natürliches und unnatürliches Laufen! Ob John Cleese zur Verfügung stünde? Vielleicht sollte man erwägen, einen Griechen ins Amt zu bitten. Schon wegen des symbolischen Gehalts in der aktuellen Krise. Als Maskottchen böte sich Pheidippides an. Ist der damals eigentlich natürlich von Marathon nach Athen, bzw. von Athen nach Sparta gerannt? Englisch konnte er wohl nicht, andererseits blieb ihm mangels Ballen- und Fersengelpolster, ohne Mehrfachdämpfung, Pronationsstütze und Gore-Tex kaum die Alternative des Unnatural Running.

Wie dem auch sei, Running an sich ist also keinesfalls natural, es muss entdeckt, propagiert, gelernt und praktiziert werden. Und, machen wir uns nichts vor, das geht nur mit speziellen Schuhen. Die haben weniger Sprengung als andere Laufschuhe, weniger Dämpfung…. Ist es natürlich, wenn ich mit meinen natürlichen Rennschuhen auf einem unnatürlichen Untergrund – Asphalt – laufe? Geht das auch in der Stadt, oder nur in der Natur? Vom Laufband will ich nicht reden.
Wobei die Schuhkonstruktion ja nur der Anfang sein kann. Natürlicher wären natürliche oder naturidentische Materialien. Ich stelle mir Espandrille ähnliche Natur-Rennschuhe vor.
Wobei mir, vom Hype abgesehen, die Sache an sich sympathisch ist. Natural Running Schuhe sind schlussendlich einfachere Schuhe, bei denen meine Füße auch mitkriegen, was gerade läuft. Für mich gehört zum natürlichen Laufen allerdings entscheidend dazu, dies vorwiegend im passenden Geläuf zu tun. Also weniger Asphalt oder Schotter, sondern soviel wie möglich Single Trails (früher Trampelpfade genannt), Wurzelwege, oder einfach mal querfeldein.

Was mache ich eigentlich am Wochenende? Natürlich Laufen!