Über Vernunft, Snickers und rohen Kuchenteig

Vor zwei Wochen kam die Nachricht, dass die TorTour de Ruhr auf 2022 verschoben wird. Ich habe mich daraufhin gefragt, wie ich die Entscheidung des Veranstalters bewerte und kam zum Schluss: Sie ist vor allem vernünftig. Wenn das mal kein Grund ist, dem Thema Vernunft ein klein wenig auf den sportlichen Grund zu gehen...
Vor zwei Wochen verschickte der Veranstalter der TorTour de Ruhr an alle Teilnehmer die Information, dass er sie, nachdem sie wegen Corona bereits von 2020 auf dieses Jahr verschoben worden war, um ein weiteres auf 2022 legt. Es bestand bis dahin noch die vage Möglichkeit, unter Umständen und eventuell, vielleicht mit Auflagen, doch zu Pfingsten in diesem Jahr... und so weiter. Nun waren also Nägel mit Köpfen, vielmehr ein Nagel mit einem Kopf und zwar, wenn ich dramatisieren will, ein Nagel in den Sargdeckel der TTdR 2021, geschlagen. Klar und konsequent.
Wie bewerte ich das?
Meine Frage hat zwei Aspekte, denn neben der rein sachlichen Frage, ob ich die Entscheidung nachvollziehen kann, steht auf gut sozialpädagogisch die Zwillingsfrage im Raum, welche da lautet:
Wie geht's mir damit?
Gut geht es mir, denn ich bin offengestanden erleichtert. Nachdem sich eine dritte Welle deutlich abzuzeichnen begann, während der Termin Ende Mai näher rückte, dachte ich darüber nach, wie ein solches Vorhaben für mich persönlich umzusetzen und zu verantworten sei. Wie würde ich ein Ereignis erleben, das neben einer sportlichen Herausforderung, die mir gewaltigen Respekt abnötigt, gleichzeitig unter den Bedingungen von Corona stattfindet. Bedingungen, die zum Beispiel bedeuten könnten, dass an Verpflegungspunkten Abstandsregeln gelten. Würde ich nach fünfunddreißig Stunden warten wollen, bis die Leute vor mir abgezwitschert sind? Das Futter müsste für jeden einzelnen abgepackt sein, man kennt ja die Geschichte von den Erdnüssen auf der Kneipentheke. Wo sich im sportiven Normalfall keine Sau um dieses appetitliche Gemisch aus Sonnencreme, Schweiß, Speichel und anderen Körpersäften schert, das im Laufe eines Laufes den Inhalt des Futtertrogs beschichtet, lässt mich "Big C" den Kopf kratzen. Da werden die Schnellsten die Ersten sein und sich sehr freuen! Ich gehöre zu den anderen...
Das Immunsystem ist ja nach derartigen Belastungen auch ziemlich im Keller, ob es dann noch Bock auf einen weiteren Härtetest hat?
Nochmal: Wie bewerte ich das?
Ich gehe davon aus, dass sich jeder, der irgendwie mit der TTdR zu tun hat, den sportlich-knackigen Hintern aufgerissen hat, um dieses Jahr dabeizusein. Völlig wurscht, ob Orgateam, Betreuer oder Läufer: Alle haben sich engagiert und sind deswegen enttäuscht. Versteht meine Erleichterung nicht falsch: Sportlich gesehen bin ich enttäuscht, die Erleichterung bezieht sich auf den Spannungszustand, den ich oben geschildert habe. Freilich hat mir die Absage erspart, mit mir und meinem Gewissen zu ringen.
Als Veranstalter ist Jens Witzel (den ich leider noch nicht persönlich kenne, aber das ist ja für 2022 geplant ;-)) selbstverständlich mit Herzblut dabei. Dieweil das alleine nicht ausreicht, spielt auch das liebe Geld eine Rolle. Ach, wird manch einer einwerfen, warum soll es bei ihm anders sein als bei allen anderen? "Soll" es nicht und ist es auch nicht, nur bin ich eben bei der TTdR angemeldet und nicht bei "allen anderen". Also geht's um Jens, der allen angeboten hat, gegen eine kleine Ummeldegebühr Anno Zwoundzwanzig mitzulaufen. Soweit ich es mitbekommen habe, hat keiner zurückgezuckt. Ich jedenfalls nicht, ich freue mich auf ein Jahr mehr Vorfreude. Oder ist es ein Jahr länger in Angst? Wer weiß?
Vor der Entscheidung selbst und der frühzeitigen Ankündigung mehr als zwei Monate vor dem Termin ziehe ich meinen Hut, mehr noch aber vor der Motivation, die zur Absage geführt hat, und die lautet schlicht: Es ist nicht sichergestellt, dass die TTdR mit dem ihr eigenen Charakter einerseits und coronakonform (ich sage bewusst nicht regelkonform, mehr dazu weiter unten) stattfinden kann.
Eine schwere Entscheidung, zweifellos.
Eine vernünftige Entscheidung.
Vernunft bedarf es dann, wenn die eigenen Vorlieben, die Affekte uns eigentlich zu einem anderen Handeln drängen. Als Kind naschte ich mit Wonne vom rohen Kuchenteig, die Ermahnungen, doch nicht zuviel davon zu essen (Liste der Begründungen: Bauchweh, es bleibt nichts für den Kuchen, die anderen wollen auch, etc.). Heute könnte ich mir jeden Tag eine Schüssel zusammenrühren, die ich mir komplett und restlos einverleibe. Backröhre? Wozu denn?
Ich könnte, aber ich tue es nicht, weil roher Kuchenteig in großen Mengen für mich jeglichen Reiz verloren hat. Vernunft ist unnötig, wenn keine Begierde im Zaum gehalten werden muss.
Ist Vernunft also ein Spaßverderber?
Betrachten wir zum Vergleich eine - meiner Ansicht nach - ausgesprochen unvernünftige Entscheidung. Nachdem längst klar war, dass eine dritte Welle auf uns zukommt, möglicherweise gepaart mit unerfreulichen Mutationen, gefielen sich einige Entscheidungsträger darin, aus dem Lockdown einen "Locker-Down" zu machen. Besonders laut krakeelende Gruppierungen schrien danach.
Was also tut man? Man tut etwas, woran entnervte Eltern an Quängelregalen vielleicht schon gedacht haben: Meinetwegen, liebes Kind, du kriegst sämtliche Snickers, alle Kaugummi und alles was hier sonst noch herumliegt. Lass' dir drei Kilogramm Snickers schmecken. Nimm und friss!
Diese komische Auffassung von Vernunft als Spaßverderber kommt wohl von den Leuten, die uns Läuflingen, die wie längere Distanzen zu goutieren wissen, gerne ermahnen "So weit? Du spinnst doch! Sei doch mal vernünftig!". Mit Vernunft hat das bloß nichts zu tun, da spricht der ausgeklappte Zeigefinger. Er will, dass wir durchschnittlich sind, meinetwegen gehemmt, nicht aus der Reihe tanzen,... Er will alles außer vernünftig sein. Zum Glück ist unser vernünftig ausgeklappte Mittelfinger kräftiger als der uns entgegengereckte Zeigefinger.
Vernunft könnte man als Schutz sehen, aber auch das greift viel zu kurz. Ich will mich nicht in philosophischen Erwägungen ergehen, bleibe lieber bei ihrem praktischen Nutzen. Vielleicht ist Vernunft für unsere Beispiele das, was man bei Kindern im Marshmallow-Test prüft (wer ihn nicht kennt: Google hilft): Verzicht auf kurzfristige Triebbefriedigung liefert später doppelten Lohn, sprich: einen weiteren Marshmallow. Vernunft ist das Vermögen, welches einen Bergsteiger wegen allzu schlechten Wetters umkehren und Tage, vielleicht Wochen später eine herrliche Bergtour genießen lässt. Sie verhilft uns zu unbeschwertem Genuss.
Unbeschwerter Genuss - wir sind zum Sport zurückgekehrt.
Denn die vernünftige Entscheidung von Jens & Co macht uns allen den Kopf frei für die TTdR 2022, jedenfalls behaupte ich, dass nur wenige sie in diesem Jahr frei und unbeschwert genossen hätten. Selbst wenn Corona noch rechtzeitig den Status "vorbei", was das auch bedeuten könnte, bekommen hätte, würde sich im Hinterkopf der meisten dämliche, ungesunde, unschöne, zweifelnde und folglich den Spaß verderbende Gedanken breit gemacht haben.
Vernunft als Spaßbringer.
Eine vernünftige Entscheidung also. Danke.

2 Gedanken zu „Über Vernunft, Snickers und rohen Kuchenteig“

  1. Ach, lieber Haraldo, das freut mich sehr, deine wieder ausführlichen Gedanken über dieses Thema zu lesen – und ich bin ganz bei dir. Es wäre unsinnig, unvernünftig, dumm in diesen Zeiten ein solches Abenteuer mit vielen Gleichgesinnten zu starten, wo immer C im Hintergrund bzw. Vordergrund stehen würde.

    Freue dich mit allen anderen aufs nächste Jahr, irgendwann wird der Spuk vorüber sein – und dann ran an die Buletten !

    Bis dahin hast du noch alle Zeit der Welt, dich gründlichst auf diesen Lauf vorzubereiten, mit Freude zu bestehen, ist ja schließlich auch kein Zuckerschlecken !

    Macht ja auch viel Spaß, bei Wind und Wetter die Laufschuhe zu schnüren, wie du mir versicherst.

    Lass es dir gut gehen – bleib gesund !

    Gibt es sonst was Neues ????????????

    1. Hi Margitta,

      deine Zustimmung erfreut mich, obgleich ich mich gewundert hätte, wärest du anderer Ansicht. Rationalität scheint mir das Gebot der Covid-Zeit zu sein. Und das bringt halt mehr und längere Vorfreude mit sich, auch wenn das zugegeben nicht immer leicht fällt. Aber ich bin wirklich erleichtert, was sich in frischer Motivation und Lauffreude äußert.

      Sonst gibt’s nichts Neues, danke der Nachfrage 😉

      Ciao,
      Harald

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