Papalagi

Als der Häuptling Tuiavii Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Europa bereiste, wunderte er sich des Öfteren über eigenartige Verhaltensweisen. Warum in aller Welt sollte man seine Wohnung abschließen? Und dieses ständige Hetzen nach Besitz von rundem Metall und bedrucktem Papier – Geld – schien ihm gleichermaßen absurd wie schädlich. Außerdem sind alle von der Krankheit des Denkens befallen.
Was würde Tuiavii wohl sagen, wenn er uns heute Sport treiben sähe?

Als der Häuptling Tuiavii Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Europa bereiste, wunderte er sich über eigenartige Verhaltensweisen der Einheimischen. Warum in aller Welt sollte man seine Wohnung abschließen? Und dieses ständige Hetzen nach Besitz von rundem Metall und bedrucktem Papier – Geld – schien ihm gleichermaßen absurd wie schädlich. Außerdem seien alle von der Krankheit des Denkens befallen.
Was würde Tuiavii wohl sagen, wenn er uns heute Sport treiben sähe?

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war Europa von Polynesien mindestens so weit entfernt wie Polynesien von Europa.
Oder war es umgekehrt?
Räumlich sowieso, aber es sind gerade die kulturellen Unterschiede, die Tuiavii dazu bewogen, seine Mitmenschen in elf kleinen Reden über das zu informieren, was dem Europäer damals wie heute selbstverständlich ist.

Über Zeitschriften berichtet Tuiavii zum Beispiel: In diesen Papieren liegt die große Klugheit des Papalagi. Er muss jeden Morgen und Abend seinen Kopf zwischen sie halten, um ihn neu zu füllen und ihn satt zu machen, damit er besser denkt und viel in sich hat; wie das Pferd auch besser läuft, wenn es viele Bananen gefressen hat und sein Leib ordentlich voll ist.

Was würde Tuiavii wohl denken, käme er heute in eine europäische Stadt, um sich das Leben hier anzusehen? Vor allem: wie würde er unsere Sportkultur bewerten?

Bilder aus fernen Ländern – Polynesien – zeigen meist gut tränierte Körper; Muskeln in einer Definiertheit, wie sie im Buche steht. Wo dem Betrachter das Talent zum Neid fehlt, blickt er voll Anerkennung auf Leiber, die das darstellen, was sich der Sport treibende westeuropäische Mensch von seiner persönlichen Ertüchtigung erhofft.
“Hier”, scheinen die Bilder zu rufen, “hier kannst du sehen, wohin du gelangt sein wirst, wenn du dort ankommst, wo du hinwillst!”

Der Betrachter folgert messerscharf: die Leute sind fit. Sie sind es, weil ihr Lebenswandel sie dazu macht.
“Seht ihr”, spräche Tuiavii, “wir rudern unermüdlich in unseren Booten, verlassen uns nicht auf den Gott der Motorisierung. Wir erklettern die Palme, um eine Kokosnuss zu essen, und bauen unsere Hütten aus dem, was wir dem Walde entnehmen. Der Papalagi kennt die Kokosmilch nur von Nüssen aus Metall, die er in eigenen Hütten gegen buntes Papier eintauscht”

Nüsse aus Metall – Dosen – gewiss, ob die wirklich das enthalten, was unser freundlicher Häuptling als Kokosmilch kennt? Wenn der wüsste, was auch wir lieber nicht wissen wollen….
….

Tuiavii würde die blassen, fetten Leiber hierzulande in Zusammenhang mit dem bewegungsarmen Leben der meisten Leute hier bringen.
Das würde ihn weder überraschen, noch irritieren.

Er würde dem Bemühen um Ausgleich seinen Respekt zollen, jedenfalls behaupte ich das. “Das, was der Papalagi seinen Beruf nennt, zwingt ihn oft, seinen Leib tagein, tagaus auf einem Fleck sitzen zu lassen. Er versucht, den Verfall abzuwenden, indem er rituelle Bewegungen verschiedenster Art ausführt. Der Papalagi sagt dazu, er treibe Sport.”

Soweit würde Tuiavii unsere Art, Sport zu treiben gutieren. Er würde jedoch äußerst konsterniert zu Kenntnis nehmen, dass Menschen bei herrlichstem Wetter im geschlossenen Raum – er würde von Hütten reden – tränieren. Eingeschlossen, statt draußen an der frischen Luft zu sein.

Noch mehr würde er sich über unnatürlich erscheindende Maschinen wundern. Sie ersetzen einen großen Teil des Leibes, damit ein anderer, kleiner Teil gekräftigt werde. Wozu alles andere fixieren, damit nur der Bizeps benutzt werde?
Es erschiene ihm widersinnig, einem funktionsfähigen Körper so viel Unterstützung zu geben, wo doch ein gesunder Mensch ohne Weiteres in der Lage ist, ein Gewicht zu bewegen.
Würde er verstehen, weshalb viele von uns “geführte Bewegungen” bevorzugen, an Maschinen tränieren, obgleich unseren Körpern diese Form der Hilfe gerade dann, wenn wir die mühsam antränierte Kraft nutzen wollen, nicht zur Verfügung steht?

Klimmzugstangen ließen ihn fragen “Die Welt des Papalagi hat mehr Bäume, als wir Sandkörner am Ufer, und doch baut er sich künstliche Äste in seine Hütte, an denen er sich hinaufzieht. Hat der Papalagi denn vergessen, dass ein Baum Äste hat?”

Ich glaube, Tuiavii wäre ein Freund von “Functional Fitness”. Er würde erfreut zusehen, wie mancher mit freien Gewichten arbeitet. All das würde ihn an Vernunft im Europäer glauben lassen.

Eine Sache allerdings bliebe ungeklärt.
Draußen ist wunderbares Wetter, sagen wir: dreiundzwanzig Grad und Sonne. Durch die große Scheibe eines Fitness-Clubs sieht Häuptling Tuiavii, wie Menschen auf Laufbändern vor sich hin traben.
Er würde es nicht nur nicht verstehen, er würde es nicht bemerken, weil sein Gehirn solch wunderliches Bild nicht verarbeiten könnte.
Da geht es ihm wie mir.

7 Gedanken zu „Papalagi“

  1. Mir ist beim Lesen deines Eintrags eine Anekdote eingefallen, die ich vor kurzem gelesen habe. Und zwar geht es um eine Frau aus dem asiatischen Raum (China?), die mit Verwundern den Sportdrang unserer Gesellschaft wahrnimmt. Daher lässt sie sich zu folgender Äußerung hinreißen: “Wenn die Menschen noch so viel Energie haben, dass sie stundenlang freiwillig Sport treiben, warum gehen sie dann nicht ins nächste Dorf und helfen dort bei der Ernte?!”
    Ich finde, dies trifft es auch ganz gut: auf der einen Seite fehlt uns die Bewegung durch tägliche Arbeit, auf der anderen Seite haben wir noch so viel Zeit und Energie, beides (Zeit und Energie) in “unnützes” Sporttreiben zu investieren. Wäre es nicht sinnvoller, diese Zeit und Energie kreativ und schaffend zu verbringen (z.B. selber etwas schreinern, im Garten selber Obst und Gemüse anbauen und anschließen zu kochen und einzumachen (wer kann das noch?)).
    Ich laufe gerne und auch gerne länger. Aber diese Fragestellung treibt mich schon seit längerem um. Denn beides, ambitioniert laufen UND in diesem Maße erschaffend zu sein, neben Job und Familie, bekomme ich nicht unter einem Hut.
    In diesem Sinne ein schönes Wochenende 🙂
    Philipp

    1. Hi Philipp,
      die Anekdote gefällt mir!
      Ich hatte schon mal mit dem Gedanken gespielt, analog zu Dienstleistungsbörsen etwas vergleichbares ins Leben zu rufen. Der Grundgedanke ist genau das, was du beschreibst: statt Krafttraining zu betreiben, gehst du zum Nachbarn und hackst Holz. Oder gräbst ihm den Garten um. Der Nachbar wiederum….. 😉

      Übrigens: herzlich willkommen auf meinem Blog! 🙂
      Harald

  2. Guter Denkanstoß – was Mensch in diesen Zeiten verkehrt macht.

    ” …..die Leute sind fit. Sie sind es, weil ihr Lebenswandel sie dazu macht “. Heute sind sie fett, weil ihr Lebenswandel sie dazu macht.

  3. Wenn man es sich genauer überlegt, sind so viele Tätigkeiten/Dinge in unserem Leben völlig unlogisch und machen eigentlich keinen Sinn. Trotzdem tun wir es, einfach, weil es alle anderen auch machen…
    Solche Artikel sind schön, um die Leute wieder ein wenig aufzurütteln 😉
    Liebe Grüsse
    Ariana

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