fein zerrieben

“Ich laufe”. Beantwortet man die Frage, welchen Sport man treibe, auf diese Weise, so findet man sich unweigerlich als Kretin im gesellschaftlichen Abseits wieder. Der feinsinnige Sportler von heute läuft nicht, er betreibt Crosslauf, Speed Hiking, City-Marathon oder Landschaftsläufe.

Was ist jetzt was?

Um uns im Wirrwarr zurechtzufinden, beginnen wir beim groben Klotz, um ihn zeitgenössisch fein zu zerreiben.

Seitdem die Evolution die aufrechte Fortbewegung einführte, können wir dies entweder ohne Flugphase – auch “Gehen” genannt – oder mit ihr tun, in welchem Falle wir von “Laufen” sprechen.

Im Laufe der Jahrtausende entwickelten sich aus dieser so einfachen und klaren Zweisamkeit eine Unzahl von Stilen, die zu durchschauen selbst Experten schwer fällt. Laien wie wir stehen den Begriffen völlig hilflos gegenüber.

Selbst wenn ich es mir leicht mache, indem ich nur das betrachte, was nach speziellen Klamotten verlangt – Spazierengehen fällt dadurch schon weg – gehen mir beim Thema Gehen rasch die Sinne davon.

“Gehen” ist als Sportart immerhin olümpisch. Ist es das noch? Zumindest war es das recht lange, ob ein Sport bei Olympia ist oder nicht, das ändert sich beinahe minütlich.
Olümpisches Gehen, das schaut für mich immer aus, als würden Hüftkranke auf rohen Eiern herumrollen. Und das in einem Tempo…

Außerhalb des Stadions gibt es “Wandern”, einschließlich der Abkömmlinge Bergwandern, Wattwandern, Wandern durch die Lüneburger Heide. Citywandern? Nein, das haben wir nicht. Noch nicht.
Wandern, das zeichnet sich durch eine gewisse Traditionsverbundenheit aus, ich denke da an den Alpenverein, Kniebundhosen und Edelweiss am Filzhut.

Trägt der Wandersmann statt Fjäll Räven lieber Kleidung eines gewissen Jakobus Wolfsfell (der mit der Tatze), und anstelle eines hölzernen Stockes derer zwei aus Kohlefaser, er entweder einer von mindestens neunundneunzig Prozent aller Zentraleuropäer, oder er ist ein Walker. Möglicherweise gar ein Hiker.
So völlig klar ist mir der Unterschied nicht, beim Hiking hat man, denke ich, mehr Gepäck daben. Wenn überhaupt.

Walking, das bedeutet Gehen im Sportdress. Gewichtsmanschetten an Armen und Beinen macht den Walker zum Power Walker.

Ich entsinne mich eines älteren Pärchens, das im Wald neben einander herging und sich unterhielt. Er in Alltagsklamotten, sie im rosa Sportdress, die Handgelenke mit Handgelenksgewichtsmanschetten betont im Gehrhythmus schwingend.
Sie powerwalkte. Er ging spazieren.

Für Nordic Walking brauchen wir Stöcke. Söcke, Handschuhe, Nordic Walking Schuhe, -Hosen, -Leibchen.
Und wenn wir das einen Tick schneller betreiben, auf leicht unwegsameren Wegen, als es Schotterstraßen sind, wobei wir darauf achten, keinesfalls eine Flugphase einzustreuen, dann, und nur dann, reden wir von Speed Hiking.

Was war Hiking gleich wieder?
Egal, denn jetzt kommt sie. Die Überleitung. Zur Flugphase. Denn: mit Flugphase geht die Evolution einen Schritt weiter, sie nimmt den entscheidenden Schritt zum Nordic Running!

Running ist nicht, auf keinen Fall mit “Jogging” gleichzusetzen. In der Läuferszene kursiert ein wunderschönes Zitat, das uns belehrt: An der Startnummer erkennen wir den Läufer. Läufer darf man übrigens zum Runner sagen. Nicht aber Jogger.
Ich erinnere mich an meine jungen Jahre, in denen ich, unbeleckt von den Feinheiten sportlicher Fortbewegung, regelmäßig zum Jogging aufbrach. Ich korrigierte meinen Vater, der sich erkundigte, ob ich denn wieder einen Waldlauf machen würde, entrüstet: “Nein, ich gehe Joggen”.

Ich gebe zu, dass ich im Wald joggte.

Wo ich, wenn ich fremd war, bisweilen die Orientierung verlor. Hätte ich mich Orientierungsläufer nennen dürfen? Oder nur dann, nachdem ich mich über den rechten Weg, von dem ich abgekommen war, orientiert hatte? Vermutlich nicht.

Die Orientierung im Land des Gehens und Laufens, Walkens und Hikens, des Wanderns und des Rennens wird übrigens nicht einfacher, wenn man sich an der Distanz orientiert. Für einen klassischen Leichtathleten sind zehn Kilometer eindeutig Langstrecke. Ultraläufer haken bei “Ich laufe Langstrecke” nach: “…hundert Kilometer? 24 Stunden? Multi-Days?”.

Hilft uns das Geläuf? Trails, Bergläufe und Crosslauf, das ähnelt sich, nicht wahr?
Mir scheint, Crossläufe sind tendenziell eher kurz und schlammig. Oder täuschen die Fotos im Internet? Und wie nenne ich diese Wettbewerbe mit Hindernissen? Tough Guy? Strongman Run? Sind das Markennamen?
Ich weiss nicht recht. Immer dann, wenn ich glaube, ich hätte einen Begriff zu fassen gekriegt, glitscht er mir aus der Hand wie ein Fisch.

In meiner Verwirrung wende ich mich Trails zu. Bin ja schon ein paar gelaufen. Es muss doch möglich sein, wenigstens hier eine eindeutige Grenze zu ziehen. Rauf und runter, schmale Wege, holprig, schlammig, felsig. Nicht unwegsam, eher wenig wegsam.

Klarer Fall eigentlich. Dann stolperte ich über “Fell Running”. Die Engländer tun das. Nicht auf der Jagd nach Bekleidung, sondern Berge hinauf und hinunter. “Fell”, so nennt man die Berge im Norden Englands (ich schätze, auch die im Süden Schottlands. Und wie ist das in Wales?). Darf ich Fell Running als Untermenge von Trail Running ansehen? Ich sehe schon die Fell Runner, wie sie ihre Schuhe als Wurfgeschosse bereitlegen, während Trailläufer unter Protestgeschrei ihre Stöcke drohend erheben.
Schon gut, ich habe verstanden. Fell Running ist nicht Trail Running.

Aber es gibt sie, die Oase der Ruhe. Parcour. Man folgt den Prinzipien von Georges Hébert, um eine gegebene Route mit Hindernissen so effizient wie möglich zu überwinden.

Nein. Keine Oase, und schon gar keine Ruhe.

Weil es nämlich allzu nett ist, zur Freude des Publikums ab und an mehr Akrobatik einzusetzen als nötig, haben sich, wer hätte es gedacht, zwei Schulen entwickelt. Die reine Lehre, und die mehr auf Show ausgerichtete Variante. Letztere überschneidet sich ihrerseits irgendwie mit Freerunning.

Ich blicke nicht durch, mir schwirrt der Kopf.
Am besten, ich mache einen Waldlauf.

5 Gedanken zu „fein zerrieben“

  1. Wow, toll geschrieben. Und so schön auf den Punkt gebracht – oder doch eben nicht? 🙂
    Ganz toller Blogeintrag!
    Viele Grüße,
    Thomas

    1. Hallo Thomas,
      vielen Dank. Wie recht du hast: war es auf den Punkt – und wenn ja: auf welchen? Oder eben gerade dran vorbei… 😉

      Viele Grüße und einen sonnigen Donnerstag,
      Harald

  2. Ganz, ganz tiefe Verbeugung meinerseits, und besten Dank! 🙂

    Mein Weg ist ganz simpel: ich tue, was mir Spaß macht. Wir brauchen die Namen der Abarten eh’ nicht kennen, um sie zu praktizieren.

    Stell’ dir vor, wir müsstesn für jede Variante eine Lizenz mitschleppen! Als nichtlizensierte Walker hätten wir Angst vor jeder Gehpause. “Sportliches Gehen ohne Gehschein. Sind Sie mit einer Verwarnung einverstanden?” 😀

    Viele Grüße und einen schönen Sonntag!

  3. Applaus
    Applaus
    Applaus
    besser kann man es nicht sagen,
    gut verpackt
    humorlos
    realitätsnah

    P.S. Ich weiß, wohin ich gehöre, lass’ mich nicht verwirren durch die Vielfalt der Abarten, hatte Zeit genug, meinen Weg zu finden.

    Danke für die erfolgreiche Zusammenlegung dieses Pussels, um in deine kuriose Schreibweise zu verfallen !!

    Eiskalte Grüße dazu ! 😉

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