Liebe Läuflinge! Ihr, die ihr das ew’ge Leiden kennt, die unsäglichen Qualen, unser Jammertal, das wir durchqueren. Ihr versteht mich; wisst, was ich meine?
Nicht? Ach richtig, ich habe noch nicht gesagt, wovon ich rede.
Kennt ihr die Schmerzen nach einem langen Wettkampf? Ganzkörperschmerzen. Es gibt sie nicht alleine, sondern im Doppelpack mit einer Beweglichkeit, über die selbst ein Neunzigjähriger lachen müsste.
Anderswo braucht man Alterssimulationsanzüge, wir machen’s billiger. Lang genug laufen, um ein paar Jahrzehnte zu altern.
Jetzt sehe ich euch verständnisvoll nicken. Ja, ihr kennt das.
Wenn wir besonders viel Glück haben, dürfen wir vor Publikum einem Auto entsteigen. Das hat nichts, aber auch gar nichts mit Promis gemein, die anlässlich der Oskarverleihung den Fond des schweren Wagens verlassen. Ein Lakai steht am geöffneten Schlag bereit, reicht charmant den Arm zur Unterstützung. Dann stolziert man lächelnd den roten Teppich entlang.
Schaffen wir nicht.
Nicht in dieser Situation.
Nichtmal, wenn ein roter Teppich vor uns läge.
Statt Schauspieler zu sein, bieten wir ein Schauspiel dar, das hart am Rand der Menschenwürde balanciert. Nur: wir spielen nicht.
Die Kür des Aussteigens zeigt sich an Autobahnraststätten. Ein freier Parkplatz findet sich gefühlte dreihundert Meter vom Klo entfernt. Der Weg dahin zieht sich elend in die Länge, wenn man auf steifen Beinen humpelt. Das Sahnehäubchen bilden wunde Füße mit fortgeschrittener Blasenbildung. So ein blutbefleckter Gehsteig macht sich recht hübsch.
Im Klo leert der gepflegte Rentner neben uns seine inkontinenzgestählte Blase (nicht die an den Füßen), während wir mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Rückweg denken. Frauen, habe ich mir sagen lassen, haben es noch schwerer: die müssen sich entweder setzen, oder eine Schwebehaltung einnehmen. Die Entscheidung fällt zwischen überwundenem Ekel und ertragenem Schmerz, ein echtes Dilemma.
Nachdem wir uns Erleichterung verschafft haben, humpeln wir den weiten, nicht enden wollenden Weg zum Auto zurück. Mitleidigen Blicken schutzlos ausgeliefert. Man spürt sie förmlich, die Gedanken der Zuschauer. „Herrje, was haben diese armen Leute denn? Sie sehen doch recht gesund aus….“.
Vor ein paar Jahren, ich befand mich auf dem Rückweg von einem 24-Stundenlauf (global gesehen: nach Hause) und dem Klohäuschen eines Autobahnparkplatzes (situativ: zum Auto), näherte sich mir eine ältere Dame: „Kann ich Ihnen beim Einsteigen helfen?“.
Salz in meine Wunden.
Ein Spießrutenlauf, wobei die Spieße aus Mitleid und die Ruten aus Häme bestehen. Lauf? Schön wär’s.
Wann endlich erbarmt man sich unser? Jede Randgrupe kriegt eigene Parkplätze! Zuerst kommen Rollstühle, dann Familien mit Kindern, gefolgt vom schöneren, und deshalb besonders schutzbedürftigen, Geschlecht. Und wir?
Freilich, unser Schicksal ist selbst gewählt. Deswegen begehren wir lediglich einen einzigen für uns reservierten Parkplatz. Nahe am Klo. „Reserviert für leidende Läuflinge“. Alternativ schreiten wir zur Selbsthilfe mit einen großen Plakat, auf dem steht „ich bin hundertfuffzich Kilometer gerannt und gehe immer noch aufrecht“. Wenn wir schon leiden, darf man uns auch dafür bewundern.
Ich bin so schwach. Wer trägt mein Plakat?
Köstlich geschrieben , wie im richtigen Leben, wie oft habe ich Ähnliches erlebt, aber wir Frauen sind tapfer und beschweren uns nicht , kämpfen nicht nur während eines langen Laufes, sondern bis zum bitteren Ende – auch auf Autobahnraststätten, versuchen erhobenen Hauptes aus dem Auto zu kriechen, vermeiden öffentliche Toiletten, suchen lieber ein stilles Örtchen im Freien und hoffen, unbeschadeten Fußes – schließlich waren vor uns noch genug andere, die das gleiche Bedürfnis hatten – wieder im Auto zu landen.
Mitleidige Blicke werden bewusst ignoriert, dafür müssten wir die Urkunde, die Medaille und/oder den Pokal stolz vor der Brust mit uns herumschleppen, damit jeder weiß was wir Außergewöhnliches geleistet haben, stattdessen prallen solche Blicke an uns ab, wie der Regen auf frisch imprägnierten Laufjacken.
Männer sind schwach, Frauen sind stark, ich halte dein Plakat !! 😉
„Blicke prallen ab wie Regen auf Laufjacken“. Klasse, der gefällt mir, das kann man sich als Freund freudvoller Formulierung öfter auf der Zunge zergehen lassen.
Du willst mein Plakat wirklich tragen? Wunderbar, in nehm‘ dich beim Wort! 😉