Spät, aber deutlich bin ich auf den Geschmack gekommen, mich mit nur einem einzelnen Rad unter dem Podex fortzubewegen. Nicht, dass ich es könnte, das Fahren mit dem Einrad, jedoch lerne ich mit flacher, doch steigender Kurve.
Ich bin begeistert und fasziniert zugleich.
Fasziniert ist hier ein Begriff aus meiner persönlichen Historie, denn ich hatte mir vor locker zwanzig Jahren mal ein Einrad (nein, ich stottere nicht!) zugelegt, auf dem ich ab und an mal saß, bis es nach leider allzu kurzer Zeit im Keller verschwand. Die Faszination hatte sich als Strohfeuer entpuppt, aus "wäre cool, das zu können" wird nur selten "ich will es lernen", was bekanntlich Üben, Üben, Üben und Dranbleiben erfordert. Man kennt das.
Aber offenkundig schwelte der Gedanke unbewusst weiter in meinem Hirn, um vor etwa zwei Jahren wieder zu lodern. Den zündenden Funken, vielmehr die notwendige Sauerstoffdusche gab es durch das Stichwort "Muni", welches die Abkürzung von Mountain Unicycle darstellt.
Mountain Unicycle.
Es bezeichnet exakt das, was ihr euch darunter vorstellt.
Und ich habe exakt das gedacht, was ihr gerade denkt: Geil! Meine Begeisterung stieg weiter, als ich ein paar Videos auf YouTube dazu sah, unter anderem von einem überaus fitten Mittsechziger, der mit den Dingern abgefahren Abfahrten abfährt.
Ich! Will! Es! Lernen!
Nix Strohfeuer, Glut erhitzte mich. Flugs kramte ich das alte Einrad hervor, welches ich nach ein paar Wochen durch ein - nein, kein Muni - normales, aber besseres Einrad ersetzte.
Warum nicht gleich ein Muni? Wegen crawl, walk, run, wie es so schön heißt. Vor dem elegant, dynamischen Heizen über Stock und Stein schien es mir angebracht, zunächst die einfache Vorwärtsbewegung mit einem Einrad zu beherrschen.
Ich beschloss, dass ich mir ein Muni als Belohnung kaufen darf, wenn ich mit meinem Einrad spazieren fahren kann. Gerne auch auf Schotterwegen, aber eben routiniert.
Es begann die Lernerei.
Durch Videos informiert, hangelte ich mich an Hauswand und Zaun entlang, übte das freihändige Fahren, wobei ich mich über die ersten zwei, drei Meter wie ein Schneekönig freute. Aktuell steht mein Rekord bei zehn, zwölf Metern, und ich kann euch sagen: Nachdem mir das gelungen war, ging an diesem Tag nichts mehr; ich war viel zu euphorisch, um mich noch konzentrieren zu können.
Moment mal: Hatte ich oben von zwei Jahren geschrieben?
Ja. Wie gesagt, ist meine Lernkurve flach.
Allerdings möchte ich differenzieren, und vielleicht ein anderes Wort vorschlagen: "Erfolgskurve". Wahrscheinlich, sogar gewiss, kann man schneller zu längeren Strecken, zum Ziel des Spazierenfahrens, kommen. Gelernt habe ich dennoch, und zwar viel und schmerzhaft.
Eine Reihe von Fehlern konnte ich durch Selbstbeobachtung ("Was genau tue ich, bevor ich auf diese Weise zum Absteigen gezwungen werde?") erkennen und abstellen, wofür ich mir auf die Schulter klopfe.
Auch ein ziemlich übler Sturz in diesem Frühjahr (stark geprelltes Handgelenk, am Tennisellenbogen werde ich noch länger laborieren) ließ mich nicht nur Handschuhe mit Handgelenksschutz kaufen, vor allem hatte ich mir selbst eine Regression verordnet:
Ich versuche nicht, egal wie, die zurückgelegte Strecke zu verlängern, sondern mein Fokus liegt auf der Kontrolle über die Situation. Auch wenn ich absteigen muss, will ich das kontrolliert tun.
Meine "Rekordstrecken" gelangen mir übrigens nach der Regression.
Was fasziniert mich daran?
Wenn ich reflektiere, so tritt der Wunsch, irgendwann mit dem Einrad, später mit einem Muni im Ort oder Wald unterwegs zu sein, in den Hintergrund.
Ich möchte aber drei Punkte hervorheben, die mir bewusst sind.
Bewegung lernen.
Dadurch, dass das Einrad um zwei Achsen kippt, ist die Anforderung an die Bewegungsqualität und -kontrolle enorm hoch. Und dabei denke ich noch nicht mal an Tricks! Der Leib muss diese Bewegungsformen lernen, sie sich einverleiben, womit auch der Bogen zum philosophischen Thema geschlagen ist, mit dem ich mich derzeit befasse (Einstieg: Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung). Wobei die Brücke zur Philosophie ein schöner, aber nicht der hauptsächliche Aspekt ist. Ich bin einfach begeistert vom Technik lernen, vom Herausbilden neuer motorischer Fähigkeiten.
Ich find's geil!
Fokus.
Das Einrad verzeiht keine Unkonzentriertheit. Wenn ich andere Gedanken im Kopf habe, zum Beispiel vom Job, wenn ich mich in der Mittagspause mal schnell eine Viertelstunde auf das Einradl setze, bekomme ich sofort und deutlich Feedback: Die Session läuft scheiße.
Fokus ist gefragt. Oft lächle ich - und diesen Seitenhieb gönne ich mir - in mich hinein, wenn ich an Aussagen denke in der Art von "dort fahre ich gerne Auto, denn da kann ich schön entspannen". Beim Autofahren nicht aufpassen zu wollen, scheint mir eine reichlich bizarre Einstellung zu sein. Die Zerstreutheit vieler Leute nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch zu Fuß oder mit dem Fahrrad im Wald, lässt mich vom Einrad träumen:
Keine Chance, unkonzentriert zu sein.
Natürlich wird irgendwann der Punkt erreicht sein, an dem die Gedanken schweifen können. Dann lege ich mir die Messlatte höher, indem ich Tricks lerne.
Entspannung.
Ein Effekt des Fokus, den wir gerne auch unter dem Stichwort "Achtsamkeit" subsumieren können. Genau eine Sache im Kopf zu haben macht ihn frei und lässt uns entspannen. Die Viertelstunde, die meine Einheiten üblicherweise dauern, genügen mir, um mich pudelwohl zu fühlen.
Übrigens reicht mir die Viertelstunde auch deshalb, weil's mein zentrales Nervensystem ziemlich fordert. Anschließend brauche ich eine Pause.
Ihr seht also, dass ich dranbleibe und ungeachtet einer flachen Lernkurve viel Spaß am Einradfahren habe.
Einradfahren?
Na gut, ich falle, nein: ich fiel vom Einrad, aktuell steige ich nach immer noch recht kurzer Strecke von ihm. Juckt mich aber nicht, meinen Spaß habe ich.
Und die Vorfreude auf das Muni, mit dem ich mich belohne, ist mir ein eigener Genuss.
anhang
Buch
Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, De Gruyter; 1966. (Photomechanischer Nachdr. 1974). Edition (1. Januar 2011)
Youtube
Terry Patterson https://www.youtube.com/c/TerryUniGeezerPeterson
Lernvideos, supergeil! https://www.youtube.com/watch?v=rWUoIv1ftXc&list=PL-cykddDwi53A0l5YuAIzl0sLa4y5eED_
...und der Einradladen meines Vertrauens
https://www.einradladen.com/
Ach ja, lieber Haraldo, eigentlich wundert es mich überhaupt nicht, dass dich Dinge reizen, vor denen sich andere scheuen. Einrad – alles hätte ich mir von dir ausgemalt, nur das nicht ! Kompliment – kann ich da nur sagen. Alleine die Vorstellung, ein Einrad zu besteigen, das Gleichgewicht halten zu können und auch dann noch „wild“ durch die Gegend zu fahren, erzeugt bei mir Respekt.
Wenn du das in jüngeren Jahren getan hättest, wäre ich wohl weniger überrascht, aber immerhin bist du auch keine 20 mehr – Hut ab – oder – wie man so schön sagt : chapeau !!
Pass bitte auf, dass du nicht …….weißt schon, immer schön konzentrieren, bei der Sache bleiben.
Toi, toi, toi – wer weiß, was noch alles kommen wird……….von wegen je oller………….. 😉
Verschneite Grüße von ganz oben
Werte Margitta,
es wundert mich nicht, dass du dich nicht wunderst! Das Einrad lag erstaunlich nahe, ich mag die Herausforderung wirklich!
Ich bin gespannt, was mich als Nächstes reizt, wenn ich dereinst souverän mit dem Muni unterwegs bin. Dann werde ich noch oller sein….vielleicht Hula-Hoop? 🙂
Ciao aus dem stürmischen Süden, Tief „Harry“ macht seinem Namen alle Ehre!
Harald
Gute Idee, ich habe meinen Hula-Hoop-Reifen immer griffbereit – Hach !!
Lieber Harald,
wieder ein gelungener Blog, diesmal sehr informativ und man spürt Deine unglaubliche Faszination und Deine Motivation trotz Seitenhieben oder nach einem heftigen Sturz, dennoch weiter zu machen. Auch Dein“ Fokus auf die Kontrolle über die Situation. Auch wenn ich absteigen muss, will ich das kontrolliert tun“, gefällt mir sehr gut, so wie Du schreibst, könnte sich davon da manch ein verpeilter Autofahrer im Straßenverkehr wirklich ne Scheibe abschneiden….Was ich aus Deinem Bericht vorallem für mich herausziehe ist, da ich leider dennoch auch ab und an mal verpeilt bin, das es sicherlich besser entspannen lässt, sich voll und ganz auf eine Sache zu konzentrieren! Oft will man 100 Dinge auf einmal erledigen und wundert sich über die mega Verspannungen die dadurch entstehen. Tja, das geht beim Einradeln nicht, da gibt’s zumindest in der Lernphase nur einen Gedanken, immer weiter, nur nicht nach unten schauen. Die richtige Blickführung wie beim Autofahren ist hier sehr grundlegend;-) DANKE DAFÜR und mach weiter so!
Gute Fahrt uns liebe Grüße
Deine Helen
Hi Helen,
willkommen auf meinem Blog!
Besten Dank für den Transfer, den du zum Autofahren herstellst, das mit der Blickführung ist mir vorletztes Jahr beim Radeln aufgefallen. Damals schalt ich mich einer üblen Kurventechnik und kam drauf, dass die richtige Blickführung auch da sehr grundlegend ist.
Ciao,
Harald