Perspektivenwechsel

Am letzten Wochenende fanden in Karlsruhe die deutschen Meisterschaften im 24-Stundenlauf statt, organisiert von „meinem“ Verein, der LSG Karlsruhe. Wie ist so eine Veranstaltung wohl aus der Helferperspektive? Ich unternahm den Selbstversuch.

Nachts. Foto: Günter Kromer
Nachts.
Foto: Günter Kromer
Am letzten Wochenende fanden in Karlsruhe die deutschen Meisterschaften im 24-Stundenlauf statt, organisiert von „meinem“ Verein, der LSG Karlsruhe. Wie ist so eine Veranstaltung wohl aus der Helferperspektive? Ich unternahm den Selbstversuch.

Seit ich zunehmend Trails laufe, hat das Runden drehen über vierundzwanzig Stunden seinen Reiz ziemlich verloren. Irgendwie ist er doch noch da, der Reiz.
Woran ich immer gerne denke, ist der Übergang in die Nacht. Wenn ich 24 gelaufen bin, war’s im Sommer, und dementsprechend heiss. Tagsüber. Falls nicht gerade ein Gewitter herniederging. Je später der Tag, desto angenehmer wurden die Temperaturen, und wenn die Sonne in den wohlverdienten Feierabend entschwand, dunkelte es. Die schönsten Stunden begannen. Das waren jene, in denen es an der Strecke ruhiger wurde. Betreuer saßen in Campingstühlen, in warme Decken und Schlafsäcke gehüllt.

Als Läufling hat man es ja leicht, wach zu bleiben. Oder wenigstens so zu tun, als ob.
Ein, zwei Stunden später waren nur noch wenige Helfer zu sehen.
Diese friedvolle Atmosphäre hatte es mir angetan. Irgendwann, schwor ich mir oft, will ich mich dieser Stimmung hingeben können.

Wie gesagt, am letzten Wochenende war die perfekte Gelegenheit dazu. Beinahe perfekt, weil just an diesen beiden Tagen die Jahrestagung nebst Symposium der Gesellschaft für Kreativität stattfand, an dem ich unbedingt teilnehmen wollte. Für Sonntag nachmittag stand ein Krankenbesuch auf dem Programm. Egal, Hauptsache, die Nacht gehörte mir.

Als Streckenposten hatte ich einen wunderbaren Blick auf das Geschehen. Campingstuhl inklusive, achtete ich darauf, dass kein Radfahrer allzu unvorsichtig die Kreise der Läuflinge störte. Wohlgemerkt, es war die Nacht von Samstag auf Sonntag im Karlsruher Unigelände, anders formuliert: nichts los. Nur die Läuflinge.
Dabei hatte ich mir schon einen mahnenden Spruch zurechtgelegt, der des akademischen Rahmens würdig sein sollte: „Störe ihre Kreise nicht!“ wollte ich jedem Radler entgegenrufen, der sich anschickte, wild auf der Laufstrecke herumzuradeln. Kam nur keiner. Vielleicht war es besser so, denn historisch gesehen hätte solcherlei Ruf leicht mit meinem gewaltsamen Ableben enden können.

So genoss ich das Défilé der Läuflinge. Hier ein Lächeln, dort ein kleiner Scherz, da eine Aufmunterung. In der müden Phase, ab vielleich zwei, drei Uhr, wurde es sehr ruhig. Sehr müde. Mutter Natur hatte eine erfrischende Dusche in Form eines Gewitters vorbereitet; unter Baum, Schirm und Poncho ließ sich der Regenguss leicht ertragen. Vollkommen unbeeindruckt auch die aktiven Teilnehmer, die unverzagt weiter liefen. Ich kann das gut verstehen, bekanntlich gibt es kein schlechtes Wetter. Wäre ich lieber gelaufen? Würde ich im Regen lieber laufen, oder wäre Immobilität vorzuziehen? Eine gute, Frage, die ich mir noch nicht beantworten kann. Wahrscheinlich hängt es an der Situation, and der inneren Haltung. Ich muss weiter grübeln.

Als es dann tagte, bemerkte ich einen Anflug von Lust, trotz aller Trailverliebtheit doch mal wieder einen 24er zu laufen. Erstaunlich, ich bin gespannt, wie lange das anhält.

Richtig schön – aus der Perspektive eines Umstehenden – wurde die letzte Stunde des Rennens. Wo zuvor, besonders mit beginnendem Tageslicht noch kommunikative Menschen um die Ecke bogen, blickte ich in leere Blicke. Hüllen menschlicher Existenz, reduziert auf die biologischen Grundfunktionen: Atmen, Essen, Laufen.

„Laufen“ sollte hier als Metapher verstanden werden.
War das, was man an Laufstilen geboten bekam, zuvor schon von einer bizarren Vielfalt, die jeden Laufcoach schluchzend und mit Schaum vor dem Mund zu Boden sinken ließe, bot sich nunmehr ein grausiges Bild.
Eine Geisterbahn zog vorbei.
Für den nächsten Zombie-Film genügte es, eine Kamera an den Rand zu stellen, und einfach laufen zu lassen.

Das änderte sich in der letzten Viertelstunde vor Schluss schlagartig. Als hätte man den Geist hinter den Gesichtern der Läuflinge wieder eingeschaltet, strahlten die ausgemergelten Gesichter, funkelten uns glückliche Augen an.
Sie liefen, gingen, humpelten nicht, sie wurden von Euphorie getragen. Selbst an den langsamsten Schlurfern, die sich auf den Resten dessen, was nur einen Tag zuvor noch Füße gewesen waren, dahinschleppten, konnte ich den einen oder anderen euphorischen Hüpfer beobachten. Vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet.

Als der Schluss-Schuss erklang, wiederholt und verstärkt durch Druckluft-Tröten, hatte in allen Antlitzen ein Ausdruck unbeschreiblichen Glückes jegliche Mattheit verdrängt.
Körper waren wieder zu Menschen geworden. Menschen auf Zeit, denn später schlugen Anstrengung und Schlafentzug wieder zu.
Bis dahin gab es nur Sieger, stolz und glücklich.

Und die Helfer? Müde, glücklich und im Geiste schon beim Aufräumen.
Ein aufmerksamer Beobachter hätte den wohl interessantesten Anblick am Montag gehabt:
Mehrere Menschen hockten um einen Müllhaufen herum. Aufgerissene Säcke hatten ihn auf die Wiese erbrochen, auf dem tags zuvor noch das Verpflegungszelt gestanden hatte. Sie wühlten im Haufen, um ihn nach Bechern und anderen Gegenständen zu sortieren. Verklebt mit Speiseresten wie Gel oder Suppe. Kalte Widerwärtigkeiten, die vom Sportler übrig gelassen, verschmäht, verbraucht und verworfen worden waren.

Ein Bild, das sonst nur von Reportagen aus Slums in der dritten Welt geläufig ist.
Ein Bild, das, hätte man es aufgenommen, zweifellos im Wahlkampf ausgeschlachtet worden wäre: „Verarmte Akademiker unterstützen. Pfandflaschenquote im Hausmüll! Jetzt!“

Aber keine Sorge, es waren nur die Reste. Die der Veranstaltung. Und von uns.