Sag’ bitte nichts.

Social Media läuft, das tut es bekanntlich seit Jahren, worin es eine frappierende Ähnlichkeit mit uns Läuflingen hat. Es ist ja nett, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Verschiedenen Sinnes bin ich allerdings mit runtastischen Selbstquantifizierern. Mein Freund René ist so einer…

Social Media läuft, das tut es bekanntlich seit Jahren, worin es eine frappierende Ähnlichkeit mit uns Läuflingen hat. Es ist ja nett, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Verschiedenen Sinnes bin ich allerdings mit runtastischen Selbstquantifizierern. Mein Freund René ist so einer…

Eigentlich kann ich die Quantified Self Bewegung verstehen. Deren Anhänger erfassen Daten ihrer Körper, die sie mit anderen austauschen. Für Diabetiker ist es selbstverständlich, bestimmte Werte regelmäßig zu messen – und wenn Spitzensportler ebenso wie Weight Watcher damit erfolgreich sind, ihre Messergebnisse einem interessierten Publikum mitzuteilen: warum nicht?

Eigentlich ist es auch eine tolle Sache, so ein Sportdatenerfassungsgerät. Bequem mit Schnittstellen zu allen möglichen Diensten und Geräten.

Ich betone nochmal den Konjunktiv: eigentlich.

Denn das interessierte, hochverehrte Publikum darf, den technischen Errungenschaften sei Dank, vom Daten erfassenden Menschen ziemlich frei festgelegt werden.
Es gibt Direktanschluss an FacebookTwitterGoogleplusundsoweiterundsofort. Und an den heimischen Rechner, sämtliche Sportvereine, die Firma, Familie, Freunde (auch außerhalb des Internets), und sämtliche Komilitonen, Alumni, Mitschüler, Mitkindergartenkinder und überhaupt: alle.

René (das ist der mit der kreativ erworbenen Marathonbestzeit) ist derart begeistert auf den Zug aufgesprungen, der da vom Bahnhof “Körperfunktion” nach “Ich will, dass es ALLE wissen” fährt, dass ich mir beinahe Sorgen mache, er könnte im Zug sitzen, während er ihn – den Zug – gleichzeitig überholt.

Nicht um René sorge ich mich. Auch nicht um den Zug. Mich bangt, die Relativitätstheorie könnte kippen, und alle Nerds würden ihr Einsteinposter – das mit der herausgestreckten Zunge – durch das Konterfei von René ersetzen.

Es begann dem gleichermaßen harm- wie belanglosen “René lief gerade 1,6 runtastische Kilometer um den Aldi-Parkplatz”.
Das war vor ein paar Monaten. René wäre nicht René, wenn er keine Chance wittern würde, jeden über Dinge zu informieren, die niemand wissen will.
Und heute?
Sensoren erfassen jede, aber auch wirklich jede, irgendwie messbare Vitalfunktion seines Körpers, diverse Softwarepakete speichern sie auf mindestens drei Computern und, vor allem: sie publizieren sie sofort.

Sofort und in einem fort.

Jeder Mensch in seinem Dunstkreis weiss sekundengenau mehr über Renés Körper als alle Geheimdienste dieser Erde zusammen. Und das will in unserer Zeit wirklich etwas heißen!

“René ist gerade 29,3 runtastische Meter um sein Auto spazieren gegangen”
“Renés Puls betrug gestern durchschnittlich 76 Schläge in der Minute. Der Mittelwert der vergangenen drei Wochen war…sein BMI ist momentan…er wiegt aktuell….”

Dazu kommen selbstgeschriebene Beiträge, heraus kommt etwas in dieser Art:

“Ich hab’ Blähungen”
“Geht wieder #furz”
“Ich geh’ jetzt schwimmen”
“René hat gerade einen Puls von 92 Schlägen in der Minute”
“Erstmal umziehen in die neue Badehose #speedo”
Empfohlener Beitrag “Speedo. Keep going swim after swim”
“Huch, bin in der Damenumkleide gelandet”
“René hat gerade einen Puls von 183 Schlägen in der Minute”
“Hübsch war sie ja…#lechz”
“René hat gerade….#zensiert”
“erste Bahn”
“René hat gerade einen Puls von 112 Schlägen in der Minute”
“zweite Bahn. Schwimme mich langsam warm”

“einunddreißigste Bahn”

Und er schreibt. Und schreibt. Und schreibt. Und schreibt. Und das war nur Twitter.

Ich sehe es vor mir, sehe es wirklich als wäre ich körperlich anwesend: René und andere quantifizierte Selbste, wie sie sich beim monatlichen Stammtisch gegenseitig ihre Daten vortragen.
“Mein Herz ist gesund: Ruhepuls minimal 52 Schläge”
“Einundfünfzig, gewonnen! Ich bin herziger als du!”

Gestern bekam ich es mit der Angst zu tun.
Diese neue App, die Stimmungen erkennt, kratzt mich weniger. Soll meinetwegen jeder wissen, dass René sich freut, verliebt ist oder seines Nächsten Weib begehrt. Nein, was mir den Angstschweiß auf die Stirn treten ließ, war eine kurze Bemerkung Renés. Ein Halbsatz, den er unbedacht vor sich hin murmelte. Er wolle gemeinsam mit einem Unternehmen der Keramikbranche Toilettenschüsseln entwickeln.

Das ängstigt mich. Ein Klo mit Schnittstellen zu Twitter und Facebook. Mit Sensoren für jeden Dreck – und natürlich automatischer Sitzerkennung, damit die Messungen auch ja dem richtigen Account zugeordnet werden.

“René hat gerade ein fantastisches Geschiss gemacht.”

Es folgen Farbe, Gewicht, Konsistenz. Um Himmels Willen, bitte kein Film!

Am schlimmsten daran ist mein schlechtes Gewissen. Denn ich bin schuld an der Informationsdiarrhoe von René.
Ich bat ihn irgendwann: wenn du nichts zu sagen hast, sag’ bitte nichts.
Das nichts sagen scheint er anders verstanden zu haben, als ich es meinte.
Denn seitdem hört er nicht auf damit, nichts zu sagen.

17 Gedanken zu „Sag’ bitte nichts.“

  1. Hallo Harald!
    Dik Browne (Erfinder und Schöpfer von Hägar dem Schrecklichen) hat mal gesagt, ihm sei es lieber, wenn die Menschen über seine Comics Schmunzeln anstatt zu lachen. Denn Schmunzeln bedeute, dass sie dabei nachdenken. In diesem Sinne hast Du uns wieder mal einen gelungenen Text zum Schmunzeln vorgelegt.
    Leider ist eine Kommentarfunktion so furchtbar beschränkt und ich kann doch nicht kurz… 😉
    Aber auch im heutigen Text wirfst Du neben dem vordergründig dargestellten Humor natürlich einige ernste Fragen auf:
    Ist es notwendig, dass das Mitteilungsbedürfnis einiger Menschen derart überhand nimmt?
    Wieso nimmt es überhand? Haben die Menschen nichts Gehaltvolles mehr mitzuteilen?
    Zwingen Sie einem ihre Nachrichten förmlich auf, weil sonst niemand mit ihnen kommunizieren möchte?
    Welches Bild wirft das auf Nachrichtendienste wie WhatsApp, Twitter, Googleplus, Facebook und wie sie alle heissen, ich möchte eigentlich keinen auslassen?
    Wäre es nicht besser, wir würden wieder mehr persönlich kommunizieren, anstatt und gegenseitig mit belanglosen Nachrichten zu bewerfen? Auch wenn es länger dauert? Wäre das nicht besser im Sinne der Qualität von Kommunikation?
    Auch im Hinblick auf die Diskussion der kommunikationstheoretischen Ansätze hat der Text unglaubliches Potential…
    Hach, ich sehe schon, der Platz wird eng und der Kommentar bereits ungebührlich lang. Bitte verzeih. Aber das geht mir bei Deinen Texten nunmal so: zunächst schmunzle und amüsiere ich mich über Deine humorige Art. Aber Du triffst auch Themen, die einen ernsten Hintergrund haben über den es sich wirklich nachzudenken lohnt.
    Für den Anfang rege ich an, dass wir alle für uns beschließen keine Renés zu werden (es sei denn wir wollen gezielt die Server überfrachten). Damit ist ein erster Schritt ja schon mal getan. 😉

    1. Ich selbst nutze WhatsApp übrigens nur um mit konkreten Menschen kurzfristige Terminvereinbarungen abzustimmen und in Facebook wird nur mein “Freund” mit wem ich tatsächlich zu tun habe und mit wem ich regelmäßig kommunizieren möchte und muss (aktuell stehe ich da bei 9 Freunden – die kann ich im Übrigen auch wirklich als solche bezeichnen). Meine Forerunner-Auswertungen behalte ich für mich, ebenso wie sonstige Datenerkenntnisse. Renés finde ich auch schlimm.

      1. WhatsApp hatte ich auf meinem alten Handy auch, beim nächsten kommt es wieder hin, ist halt ein praktisches Tool.
        Mir fällt gerade ein älteres Medium ein: Email. Da gibt’s auch Leute, die grundsätzlich mal alle in CC nehmen. Und natürlich wird jede Mail mit hoher Priorität geschickt, was natürlich beides das Vertrauen in den Sender erodieren lässt.

    2. Hi Thomas,
      danke für den Vergleich mit Browne. Vielleicht krieg’ ich es im Lauf der Jahre auch hin, mich seinem Einkommen anzunähern…. 😉

      Die verschiedenen Kommunikationsmodelle hatte ich auch im Kopf, als ich den Artikel geschrieben habe. Muss grad’ grinsen: Was könnte bei Schulz v. Thun nur der Appell sein? “Lies mich”?

      Du bringst einen guten Vorsatz ins Spiel, wenn du sagst wir sollten keine Renés werden. Ich bin Optimist. Das ist meine Natur. 🙂

  2. Oh weh, hoffentlich werde ich nicht von jemanden ‘René’ genannt!

    Ein sehr amüsanter Beitrag, den ich – entschuldige die Beiläufigkeit – zu meinem abendlichen Erdbeerkuchen genossen habe.

    1. René nennen? Automatische runtastische Meldungen postest du doch nicht, oder?
      Erdbeerkuchen…womöglich selbst gemacht? Mach’ mich nur neidisch! 😉

      1. Ja, also nein. Ich sage zwar ab und zu viel über mein Training, aber automatisch geht hier schon mal gar nichts. Wäre ja noch schöner! Dann hab ich ja Glück 😀

        Ähhh, ja, selbst zu bereitet 😀 So schnell wie er fertig war, war er auch wieder weg…

        PS. klar auch, dass ich gleich doppelt post, obwohl ich nicht viel zu sagen hatte. Ok, ein so ein Smiley geht noch 😀

        1. Selbst gemachter Erdbeerkuchen. Ich hätt’ ihn inhaliert!
          Auch noch’n Smiley von mir bevor ich mich dem zeiten Posting zuwende: 🙂

  3. Oh weh, hoffentlich werde ich nicht von jemanden ‘René’ genannt!

    Ein sehr amüsanter Beitrag, den ich – entschuldige die Beiläufigkeit – bei meinem abendlichen Erdbeerkuchen genossen habe.

  4. Wieder mal ein äusserst lustiger Bericht 🙂 Und wenn ich selbst auch Twitter, FB und co. sehr mag und auch gerne lese, was andere Leute so tun und lassen (jaja, ein bisschen Voyeur steckt in fast jedem), so muss ich doch nicht “alles” und vor allem “völlig nebensächliches” wissen. Zum Glück kann man das ja beinahe überall ausblenden.
    Leibe Grüsse
    Ariana

    1. Vielen Dank! Ich finde Social Media mittlerweile auch ok, und, wenn ich ehrlich bin, gerade zwecks Gruppenkommunikation praktischer als Email.
      Ich denke, vor allem die automatisch erzeugten Meldungen werden noch zunehmen. Schauen wir mal.;-)

      Ciao,
      Harald

  5. Diese vielen Renés werden zur Qual und sind mit einer Art Mitteilungsbedürfnis ausgestattet die ich bis heute nicht verstehe. Runtastische Grüße aus Kärnten!

    1. Da geht es dir wie mir. Es ist beinahe ein Pendant zu den Fernseh-Zwangsgebühren. Dort zahlst du, auch wenn du nicht schaust, während du bei den Renés in die Empfängerrolle gezwungen wirst. 🙂

  6. Du sprichst mir aus der Seele
    komisch
    meiner heißt auch René
    ist aus dem gleichen Holz geschnitzt
    er lässt sich auch nicht helfen
    er ist nicht mehr mein Freund
    ich habe ihn gelöscht
    und schon habe ich neue Renés entdeckt………….. 🙄

    1. Besten Dank! Erstaunlich, wieviele Renés es auf dieser Welt gibt. Mein René ist ja bloß ein Archetyp, deiner anscheinend nicht…?!
      Stimmt schon, irgendwann kommt der Moment an dem man sich fragt, ob man nun wirklich alles wissen will, was von Person X publiziert wird.
      So viele Renés…und es werden mehr… 🙂

  7. Renè hat es wohl verstanden, dass man mit dem Informationsoverkill NSA, CIA, ADAC & Co. so verwirrt, dass die wirklich geheimen/wichtigen/subversiven Aussagen nur noch für den Kenner zu sehen sind und die Computer in den Hauptquartieren hieß laufen 🙂

    1. Mensch Daniel, da wird vielleicht ein Schuh draus! Wenn irgendwann sämtliche Schlapphut-Rechenzentren anfangen zu qualmen, hat es funktioniert! 🙂

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