Juliette würde mich loben. Oder täte es Aristoteles?

In den letzten Wochen habe ich gerne mal eine kleine Trainingseinheit am Morgen, bevor ich ins Büro fahre, eingeflochten. Mit klein meine ich die Zeit, keineswegs immer etwas locker-entspanntes Training ohne Belastungsreiz. Nun bin ich wahrlich kein Freund von morgendlicher Aktivität, was mich fragen lässt, von welcher Seite ich hierfür wohl ein Schulterklopfen zu erwarten hätte. Lasst mich euch daher skizzieren, was ich tue, um euch anschließend die Protagonisten vorzustellen. Danach spekuliere ich vor euch, meinen Lesern, wer mir wohl wohlwollend zunicken würde.
Wie gesagt, Frühsport ist wirklich nichts für mich. Und ich will etwaigen Vermutungen, ich sei auf die dunkle Seite derer gewechselt, die um fünf Uhr morgens die Laufschuhe schnüren, Yogamatte ausrollen oder das Springseil kreisen lassen, sogleich entgegentreten: Nein.
Allerdings freue ich mich gerade jetzt im Sommer öfter über einen leidlich munteren Zustand frühmorgens (!) um Sieben. Da kann ich mich locker eineinhalb Stündchen auf den Balkon setzen, Teechen nuckeln und Buch lesen. Oder ich flechte ein Trainerlein ein: Seilspringen, Yoga, Kettlebell - Turkish Get-Up und Swings oder Snatches, Eigengewichtsübungen oder dergleichen mehr. Eine halbe Stunde reicht, so dass ich noch im Bett dösen kann.
Es macht mir Spaß, ich gehe munter mit breitem Lächeln und dem guten Gefühl, bereits trainiert zu haben, ins Büro. Das soll übrigens nicht bedeuten, dass ich ausschließlich auf dieses Training umgestiegen bin, mitnichten! Es sind zusätzliche, Freude spendende Einsprengsel, die ich mir gönne. Mir gefällt's, was meinen Kopf die Frage stellen lässt, die den Anlass zu diesem Artikel gab:
Ist das, was ich da tue, lasterhaft, oder zeigt Tugend sich darin?
Tugend ist so ein scheinbar aus der Zeit gefallenes Wort. Ich weiß nicht, wie es euch geht, darin scheint etwas jungfräulich-sittsames mitzuschwingen. Ist bei mir jedenfalls so, auch wenn ich es mittlerweile besser weiß. Tatsächlich hat Tugend hat ihren Ursprung in der Tauglichkeit für etwas. Offenbar tauge ich zur morgendlichen Betätigung, oder? 
Gemach, gemach. Ich bin erst am Anfang.
Ich bediene mich für die Definition bei Aristoteles, ohne schon darüber nachzudenken, ob er mich denn ob meines Tuns für tugendhaft hielte.
Tugend ist bei ihm ein Habitus des Wählens der Mitte zwischen zwei Extremen. Man ist daran gewöhnt, durch kluge Überlegung die goldene Mitte zu wählen. Eine Sache des Trainings, wenn man so will. Das Gegenstück dazu ist dann das Laster: Affektgetrieben, unausgewogen.
Tugend klingt wahnsinnig vernünftig. Besonnen. Vor allem, wenn ich mir überlege, dass der Aristoteles Wert darauf legte, tugendhafte Handlungen sollten freiwillig sein!
Er präsentiert eine ganze Liste von Tugenden, und genau hier fängt es an, für mich schwierig zu werden. Frühes Aufstehen zum Behufe sportlicher Betätigung fehlt nämlich in der Aufstellung. Aber, ich gelange über einen Umweg zum freundlichen Augenzwinkern vom alten Griechen, denn....

Lob von Aristoteles

Immerhin ist Mäßigkeit eine der Tugenden aus seiner Liste. Und ich behaupte selbstbewusst, dass eine Zeit zwischen sieben und acht Uhr meiner Ansicht nach weder unmäßig früh, noch extrem spät ist. Grenzwertig früh, das gebe ich gerne zu, aber noch im Rahmen. Auch meine Reize setze ich mäßig. Bitte aufmerksam lesen: Ich setze die sportlichen Reize, keineswegs setze ich meine Reize ein, indem ich mich etwa unbekleidet auf dem Balkon räkele! Zudem tue ich das Ganze freiwillig - und ich bin um die Zeit sogar leidlich zurechnungsfähig, denn auch das ist Aristoteles wichtig. Der hat an alles gedacht, der alte Philosoph.
Jetzt krieg' ich die Kurve....
Obendrein schreibt er - ich zitiere den Satz gerne!:
Übertriebene Körperübungen ebenso wie unzureichende führen den Verlust der Leibeskraft herbei.
Da hätten wir's! Wohldosierter Sport ist tugendhaft!
Nachzulesen ist das Ganze in der Nikomachschen Ethik, deren Titel mir den Weckruf Niko, mach! liefert. Ich heiße zwar nicht Niko, auch kenne ich niemanden dieses Namens, wirken tut er trotzdem.
Weil die Morgenstund' Gold im Munde führt und ich die goldene Mitte leichten Trainings wählte, bin ich also ein Tugendbold und es steht Eins zu Null für Aristoteles? Nicht ganz....

Ein Lob von Juliette

Anders als Aristoteles ist Juliette eine fiktive Figur, erdacht von Donatien Alphonse Francois Marquis de Sade, seines Zeichens Namenspatron des Sadismus. Wer seine Bücher liest, wird schnell verstehen, weshalb.
Juliette oder die Vorteile des Lasters ist eines seiner Werke, in dem Julchen ein überaus ausschweifendes Leben führt. Es sind Ausschweifungen, die auch hartgesottenen, pornogestählten Jetztzeitlern Schames- bis Zornesröte ins Gesicht schießen lassen dürften. Damit ist noch nichtmal erwähnt, dass die Gute (ob dieser Benennung würde sie sich beleidigt gefühlt haben...) jedweder Loyalität abhold war. Freundschaft schien ihr ein gespannter Bogen zu sein, dazu gedacht, den Pfeil des Verrats abzuschießen.
Dazu mochte sie körperlich-seelische Qualen, die sie ebenso freudig spendete wie sie entgegenzunehmen, so gerne wie andere Menschen ihren Frühsport.
Denn ich springe keineswegs leicht aus den Federn. Auch wenn ich wach bin, bedarf es einer quälenden Willensanstrengung, bisweilen unterstützt durch meine Blase, um mich aus dem gemütlichen Bett nebst dem Schweifen lassen meiner Gedanken zu erheben. Und wer im halbwachen Zustand ohne nennenswerte Koordinationsfähigkeit schon mal Seilspringen versucht hat, der weiß, dass Juliette sich über das Gefühl eines flott geschwungenen Stahlseils an nackten Zehen gefreut hätte. An ihren eigenen Zehen, wie auch an den Zehen eines anderen Menschen. Meinen zum Beispiel.
Insofern fehlt das Maß, bin ich lasterhaft unterwegs. Besonders auch deswegen, weil einstellige Uhrzeiten nach meiner Definition grundsätzlich als lasterhaft gelten müssen.
Es steht Eins zu Eins, denn ich fröne lasterhaftem Tun.
Bekomme ich Applaus von beiden Seiten? Juliette und Aristoteles nebeneinander, fröhlich in die Hände klatschend? Oder ist jeder der beiden unzufrieden mit mir, weil ich mich weder gescheit quäle, noch richtig "tugendlich" bin?
Ich lobe mich einfach selbst.