Vom Frühsport und der Schlummertaste

Es soll ja Menschen geben, die gerne früh aufstehen. Für jene sind Sportverantstaltungen gedacht, deren Start um sechs Uhr morgens ist. Ich gehöre zu den anderen, um die Uhrzeit bin ich noch im Koma – selbst wenn es aussieht, als würde ich mich bewegen.

Morgenstund‘ hat, so behauptet ein Sprichwort, Gold im Munde. Aus diesem Gerücht ist vermutlich die Unsitte entstanden, bereits im Frühtau zu Berge oder anderswohin zu ziehen. Konkret starten viele Ultraläufe ausgesprochen früh.

Sehr früh.

Um sechs zum Beispiel.

In Worten: um sechs!

So schockiert meine Worte erscheinen mögen – ich schreibe sie im Bewusstsein, dass es Menschen gibt, die noch früher von selbst aufwachen und mit einem strahlenden Lächeln, ein fröhlich‘ Lied vor sich hinpfeifend, aus dem Bett springen. Ein guter Freund von mir ist auch so einer dieser frühen Vögel, die den Wurm fangen. Vorausgesetzt, der Wurm ist schon wach. Wobei es dem kundigen Vogel wahrscheinlich egal ist, wenn er den Wurm im Schlaf aus seliger Nachtruhe in den ewigen Schlaf versetzt. Wetten, dass es den frühen Vogel ganz schön wurmt, wenn ich in der untergehenden Sonne ein leckeres Abendessen auf dem Balkon genieße.

Sechs Uhr (Oder andere Perversionen, sieben Uhr ist nicht viel besser, während mir die Finger beim Gedanken krampfen, ich müsste Startzeiten von fünf oder gar vier Uhr tippen. Da lass‘ ich es lieber bleiben) nehmen wir mal als Metapher. Sechs Uhr, das ist mal locker zwei Stunden vor dem Aufwachen, und da bin ich schon großzügig. Um meinen Zustand zu niedrigen, einstelligen Uhrzeiten zu beschreiben, greife ich eine bekannte Redewendung auf: Aufstehen, so besagt diese, sei wie ein kleiner Tod.

Hier muss ich widersprechen.

Aufstehen ähnelt keineswegs dem Ableben, im Gegenteil!

Wenn ich mir die einzelnen Phasen des Aufstehens vor Augen führe, gleicht es eher dem Geborenwerden: Zuerst beginne ich, eine Umwelt um mich herum wahrzunehmen. Dann öffne ich ein Auge einen Spalt weit, mache die ersten, anfangs noch unsicheren, Schritte. Ich kommuniziere – zuerst mit Grunzlauten, danach folgen Ein- und Mehrwortsätze, bis ich nach geraumer Zeit im Vollbesitz meiner Fähigkeiten bin.
Das bedeutet, dass dieses Wesen, das am Start eines Frühstart-Ultras wie ich aussieht, nicht ich bin. Es handelt sich um ein Übergangs-Ich, angesiedelt zwischen dem sabbernden Säugling (der sich komischerweise aufrecht vorwärts bewegt) und einem Zombie. Anders als bei Letzterem besteht bei mir indes Aussicht auf Heilung.

Verglichen mit diesen Frühstart-Perversionen finde ich einen Start am Abend übrigens ausgesprochen human. Ob um halb sieben (abends!) oder um Zwölf (abends oder mittags ist mir gleich sympathisch) – aus dem wachen Zustand heraus laufe ich gerne die Nacht durch. Ich bin Eule, keine Nachtigall.

A propos Nachtigall.

Willst du schon gehen? Der Tag ist ja noch fern.
Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche,
Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang;
Sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort.
Glaub, Lieber, mir: es war die Nachtigall.

So spricht Julia zu Ihrem Romeo, nach der gemeinsam verbrachten Nacht. Wohlgemerkt waren die beiden wach geblieben, was in etwa dem Start am Abend entspricht.
Würde Julia mich mit derlei Erörterungen wecken, ich wäre kein Romeo. Mein banges Ohr durchdringt in solcher Lage so gut wie nichts. Und selbst wenn es ihr gelänge, meine Aufmerksamkeit zu erregen: Anstelle romantischer Erwiderung würde ich ihr mit Hilfe unwilliger Grunzlaute zu verstehen geben, dass mir der Sinn nach allem Möglichen steht („alles Mögliche“ bedeutet: Schlaf), keineswegs jedoch nach ornithologischem fachgespräch auf der Basis von Vogellauten. Ebenso wenig wäre ich imstande, die übermittelte Information zu Standort und Lebensraum des Vogels sachgerecht zu verarbeiten. Damit ich „dort“ erkenne, müsste ich ja mindestens ein Auge öffnen, womöglich noch den Kopf bewegen, falls er nicht in die richtige Richtung orientiert ist. Und ein Granatbaum? Ich bin schon froh, wenn ich mich in der Aufwachphase selbst erkenne, geschweige denn einen Granatbaum von einem Küchentisch zu unterscheiden im Stande wäre.

Ich denke, also bin ich, schreibt Descartes.

Ein ich, das ich täglich aufs Neue entwickle.

Wobei ich eines gerne zugestehe: Sport am Morgen kann Spaß machen!

Wenn ich, bevor ich ins Büro gehe, eine Trainingseinheit absolviert habe, betrete ich dasselbe mit einem breiten Lächeln. Das soll nun nicht bedeuten, dass die Aussicht auf einen locker-lächelnden Morgen das Aufstehen an sich leichter macht, die ersten zwanzig Minuten körperlicher Aktivität sind und bleiben übel. Dabei ist es egal, ob ich Laufe oder Athletiktraining betreibe, es ist immer übel. Wenigstens bildet sich mein ich schnell, so dass ich mehr bin als ein bloßer Zustand ohne Bewusstsein, was mir motivierende Selbstgespräche ermöglicht.
Davon abgesehen lebe ich mit den bekannten Defiziten, deren Abbau ich im Laufe der Trainingseinheit miterlebe: Koordination? Kenne ich nicht. Nicht in der ersten halben Stunde, nachdem ich senkrecht bin. Seilhüpfen kann ich also vergessen. Tempotraining auch. Anspruchsvolles Krafttraining sowieso. Also starte ich mit ausgedehntem Aufwärmen – Stichwort Mobility. Füße noch im Bett kreisen lassen, das kriege ich unfall- und umfallfrei hin.

Damit der Übergang noch ein wenig sanfter vonstatten geht, hat mein Wecker eine Schlummertaste, deren acht Minuten ziemlich genau die Zeitspanne abdecken, die ich brauche, um gerade wieder einzuschlafen. Schlummertaste, o du teuflischer Engel! An schlechten Tagen gelingt es mir übrigens, mit Hilfe dieser kleinen Schlummereien genügend Zeit zu überbrücken, um doch wieder abends zu trainieren. Wobei mir dadurch logischerweise dieser unbändige Stolz auf einen erfolgreichen Aufstehvorgang versagt bleibt.

Ganz perfide wird es, wenn sich meine Blase mit der Schlummertaste verbündet. Gerne tut sie das vor dem ersten Piepsen des Weckers, wenn es schon hell ist. Damit wir uns richtig verstehen: ein, zwei Stunden Frist sind wirklich kein Ding. Einmal raus und wieder rein ins Bett und flugs in den sofortigen Tiefschlaf. Ich kriege kaum mit, dass ich draußen war.

Nein, die wahren Schrecken erlebe ich, wenn ich etwas wacher bin.

Dann kämpfe ich.

Vergebens.

Nicht einmal Chuck Norris kann wieder einschlafen, wenn er nachts pinkeln muss, ohne auf dem Klo gewesen zu sein. Wie ich es drehe oder wende: es klappt nicht. Also raus. Meine Blase weiß das. Und bringt diese widerlichen Aktionen der Blase, so zwanzig Minuten vor dem ersten Läuten. Gemütlich liegenbleiben und abwarten, bis es piepst? Vergiss‘ es! Also raus, halb wach sein, wieder einpennen bis gefühlte zwei Sekunden später der Wecker seine Pflicht tut.

Aufstehen ist kein kleiner Tod, es ist ein Ritual. Ein Ritual, welches die höchst empfindliche Psyche eines schlafenden Menschen behutsam in den wachen Zustand bringt. Wie das Leute hinkriegen, die zu nachtschlafender Zeit schon fröhlich und agil wirken, ist mir ein völliges Rätsel.
Wenigstens sind die meisten so einsichtig, dass sie mich in meinem labilen Zustand nicht aggressiv ankommunizieren, oder gar Antworten auf offene Fragen erwarten! So naiv ist kaum jemand. Wer sich mit Grunzlauten zufrieden gibt – meinetwegen.

Es bleibt die Frage der frühen Startzeiten. Angeblich sei es schwer, Helfer zum längeren Bleiben zu bewegen, hörte ich einmal. Sind denn alle Helfer solche früh-aus-dem-Bett-Hüpfer? Oder ist das mancherorts eine perverse Tradition?
Eine Tradition, geboren aus der Auffassung: wenn wir früher anfangen, haben wir mehr vom Tag? Ehrlich, Leute, wieviel habe ich von einem Tag, von dessen ersten paar Stunden nichts mitkriege?

Frühaufsteher freuen sich natürlich.

Ich dagegen grunze vor mich hin und bin froh, wenn ich zu zweistelligen Uhrzeiten feststelle: O geil, ich bin wieder auf der Welt!