Schauerlauf

Dichter Nebel empfängt mich, als ich abends die Haustür hinter mir schließe. Am Ortsrand nähere ich mich dem Wald, der düster und schweigend auf mich wartet. Nach einigen Schritten wende ich den Blick zurück: ein fahler Schimmer erinnert mich an Straßenlampen, an erleuchtete Fenster als wollten diese schwachen Lichtpunkte mir das Versprechen von Geborgenheit geben.
Es raschelt im Gebüsch neben mir.

Dichter Nebel empfängt mich, als ich abends die Haustür hinter mir schließe. Am Ortsrand nähere ich mich dem Wald, der düster und schweigend auf mich wartet. Nach einigen Schritten wende ich den Blick zurück: ein fahler Schimmer erinnert mich an Straßenlampen, an erleuchtete Fenster als wollten diese schwachen Lichtpunkte mir das Versprechen von Geborgenheit geben.

Es raschelt im Gebüsch neben mir.

Ich zucke zusammen, meine Nackenhaare stellen sich auf.

Es raschelt wieder.

Es gibt eine Sache, die mich mehr erschreckt als ein Tier, welches im Gebüsch raschelt und wegläuft: nämlich ein Tier, welches im Gebüsch raschelt und nicht wegläuft.
Ich bin nicht langsamer geworden, und so entferne ich mich von Geraschel und mutmaßlichem Tier. Meine Gänsehaut wird mir wohl das Erscheinungsbild eines Igels gegeben haben. Eigentlich müsste meine Laufjacke an unzähligen Stellen von Stacheln durchbohrt sein, was sie, davon überzeuge ich mich kurz, nicht ist.

Weiterlaufen.

Vor mir ist etwas Dunkles auf dem Weg. Irgendein Schatten. Was, wenn ich über eine Leiche stolpere?
Licht wäre schön, mit Stirnlampe sehe ich noch weniger als ohne. Nebel, der mich blendet. Natürlich, sage ich mir, ist das nur ein harmloser Schatten, oder eine Pfütze.

Und falls nicht?

In meinem Kopf entsteht die Vorstellung, wie mein einer Fuß an etwas weichem, schwerem hängenbleibt. Ich strauchele, drehe mich um. Als ich meine Leuchte einschalte und nach unten blicke, sehe ich einen leblos daliegenden Menschen.
Ich wage nicht, ihn anzufassen. Mein Blick irrt hin und her, ich weiss nicht was ich tun soll. Kein Handy dabei, schnell zum Ort zurück. Das ist mir lieber, als neben der Leiche auf das ersehnte Martinshorn zu warten.
Wo eine Leiche liegt, deren leerer Blick mich noch lange verfolgen könnte, lungert ihr Totmacher vielleicht noch im Gebüsch. Vielleicht ist es besser, wenn ich das Licht auslasse. Er könnte mich sehen. Waren das Schritte hinter mir? Lieber schiebe ich die Mütze hoch, um besser horchen zu können. Nein, keine Schritte. Nur Tropfen, die von den nassen Bäumen auf meine Kapuze triefen.

Und keine Leiche.

Nur ein breitgefahrener Erdbrocken.

Letzten Sommer lief ich auf einen Ast zu, der mich von weitem an einen Komodo-Waran erinnerte. Wenn es nun einer gewesen wäre? Vor Wildschweinen könnte ich mich auf einen Baum flüchten – falls ich schnell genug bin. Vor einem Waran nicht, weil die Biester klettern können. Und wie ich gelesen habe, halten sie sich nicht weiter mit dem Jagen auf, sondern sie vertrauen auf den Bakteriencocktail in ihrem Speichel. Ein Biss genügt, um das Objekt der Begierde (in diesem Fall also ich) an einer Infektion zugrunde gehen zu lassen. Mit seinem ausgezeichneten Geruchssinn kann ein Waran gemütlich der Spur des dahinsiechenden Opfers (in diesem Fall also ich) bis zum Ort seines Ablebens folgen. Aas mundet Waranen sowieso besser als lebendiges Fleisch, zudem wehrt sich ein Kadaver (in diesem Fall also ich) nicht. Ich überlege, ob ich es als angebissener Läufling bis zu meiner Behausung schaffen würde. Dann nach ärztlicher Hilfe telefonieren, und der Waran guckt in die Röhre.

Es war wirklich nur ein Ast.

Jedes Mal, wenn ich daran vorbeilief.

Der Wald ist finster, und immer noch herrscht dichter Nebel. Schaurig, ohne dass sich der Schauder begründen ließe. Es ist dieses nicht Benennbare, das den Schrecken stärkt, weil es die Vernunft ausschaltet. Ohne konkrete Dinge findet das Grauen im Kopf statt, der sich vorzüglich mit sich selbst beschäftigt, und sich in die Angst hineinsteigert. Deshalb wirken Bücher besser als Filme, weil jeder Leser seinen eigenen Schrecken erlebt. Tief aus dem Unterbewusstsein. Deshalb löst der menschenleere Wald das unnennbare Grauen in meinem Kopf aus. Meine Angst speist sich selbst, sie lähmt den Verstand, der Rettung bringen könnte. Entrinnen gibt es nicht. Sapere aude, sagt Kant in anderem Zusammenhang: Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen. Doch der Mut schwindet mit jedem Schritt.

Ich drehe mich um.

Nichts.

Natürlich nicht. Kaum Geräusche, der Nebel verschluckt die vertrauten Laute, die sonst ein wenig Halt geben.
Meine Nackenhaare stellen sich wieder auf. Ich sehe auf die Uhr: halb zehn. Wenigstens keine Gespenster, Geisterstunde ist erst ab zwölf.

Halt!

In welcher Zeitzone?

Woher wissen Geister, wie spät es ist? Interessieren sie sich, für Sommer- und Winterzeit? Plausibel scheint mir, dass sie sich den Zeitzonen anpassen. Damit dürfte das geklärt sein.

Puh.

Was ist mit Vampiren?

Ein Holzpflock durchs Herz soll helfen, ich frage mich nur, ob ein Vampir lange genug stillhält. Vielleicht sollte ich mir eine Armbrust beschaffen. Nein, zu sperrig. Eine Art Harpune vielleicht?
Oder ein Kreuz. Rettet es auch Atheisten? Ich stelle mir außerdem vor, wie ich dem Vampir ein Kruzifix hinstrecke. Mit siegesgewissem Blick und fester Stimme sage ich zu ihm Vade Retro, zuversichtlich, dass er winselnd davonrennt. Zu meinem Erstaunen lächelt der Vampir Netter Versuch, aber das ist ein katholisches Kruzifix. Ich bin evangelisch., bevor er sich mir, besonders meinem Hals, mit aufgerissenem Rachen nähert. In einer anderen Schreckensvision hält er mir mit sardonischem Grinsen entgegen Das Ding ist ja nichtmal geweiht, billiger China-Schrott. Sie haben am falschen Ende gespart., bevor er sich mir, besonders meinem Hals…

Vampire sterben bei Sonnenaufgang. Wenn ich nun eine Lampe hätte, die das Lichtspektrum der Sonne nachbildet, könnte ich einen allzu aufdringlichen Beißer problemlos in einen Haufen Asche verwandeln. Ich muss mich unbedingt an einen Lampenhersteller wenden, die Welt braucht solche Lampen! Gerade in Rumänien, der Heimat Draculas, sollten diese reißenden Absatz finden! Vorläufig, bis die Produktion anläuft, muss ich zu anderen Mitteln greifen.

Also doch der Holzpfeil.

Gegen Werwölfe hilft der allerdings nicht, Holz lässt sie völlig unbeeindruckt, stattdessen muss es Silber sein. In früheren Zeiten wurden Silberkugeln verschossen. Witzbolde, soll ich mit Knarre herumlaufen? Erstens ist mir das zu schwer, zweitens schleppe ich schon die Harpune mit mir herum. Wegen der Vampire. Das bringt mich auf eine Idee. Gegen Vampire brauche ich Holz, gegen Werwölfe Silber. Wenn ich die Harpune nun mit einem hybriden Geschoss ausrüste, das aus einem tragenden Stahlkern besteht, der ähnlich wie eine Bleistiftmine mit Holz umhüllt ist, bedarf es nur noch der Silberspitze, und weder Vampire noch Werwölfe sind vor mir sicher.

Anders herum natürlich, ich will schließlich nicht auf die Jagd gehen.

Meine Kontemplationen haben mich beruhigt, ich muss über meine Lust am Schaudern lächeln. Irgendwie macht es Spaß, mit solchen Gedanken herumzuspielen, wenn die Situation schon dazu einlädt. Oft genug diente dunkler, nebelverhangener Wald als Kulisse für grausige Geschichten. Eigentlich lebte und lebt eine ganze Branche davon, das Unnennbare mit den Umbewussten zu verknüpfen, um Angstbilder heraufzubeschwören. Es muss ungenannt bleiben, denn der Verstand tötet die Angst. Deshalb, das ist eigentlich ein simples Prinzip, muss man ihn ausgeschaltet lassen, damit die Phantasie der Psyche auf die Nerven gehen kann.

Plötzlich knackst hinter mir ein Zweig.

Ich renne.

Hetze.

Nackenhaare.

Werde ruhiger.

Verfalle in einen entspannten Trab.

Der Wald lichtet sich, ich nähere mich der Geborgenheit des Ortes. Als mich eine gefrorene Pfütze beinahe zu Fall bringt, hat mich die Realität wieder.

Schauerlauf. Sollte ich öfter tun – vielleicht mal zwischen zwölf und eins?