Wundersame Vermehrung

Manche Dinge lassen uns wundern, wenngleich sie sich leicht erklären lassen, während die einschlägige Literatur religiöser Art mit unerklärlichen Geschichten aufwartet, die sie “Wunder” nennt. Dann wiederum gibt es die wundersame Vermehrung. Läuflinge kennen sie gut.

Leben wir in einer Welt voller Wunder? So der Laie staunt, und sich selbst der Fachmann nur noch wundern kann, entpuppen sich die meisten wunderbaren Dinge bei näherer Analyse als ziemlich profan. Ursachen und Wirkungen und Zusammenhänge und nicht immer einfache, dafür jedoch schlüssige Erklärungen lassen uns neidvoll auf Kinder blicken, die noch richtig staunen können.

Viele von uns haben sich die Fähigkeit zum Staunen trotz des Erwachsenenalters bewahrt. Wir freuen uns, wenn wir Erstaunliches entdecken.

Aber echte Wunder?

Wunder von jener Art, wie sie in der einschlägig religiösen, quasireligiösen, esoterischen und sonstwie phantastischen Literatur dargeboten werden? Wunder, vollbracht von irgendwelchen Göttern, Geistern, Kräften oder Energien? Ich krampfe immer, wenn die beiden letztgenannten Begriffe anders verwendet werden als um, eben Kräfte (in Newton) oder Energie (in Joule) zu bezeichnen.
Solche Wunder wären wohl echte Wunder zu nennen, wenn sie sich nur durch den Rückgriff auf erdachte Irgendwasse “erklären” lassen.

Läuflinge kennen diese Art Wunder.

Nur selten sind sie blau.

Ich meine die Wunder, von den Läuflingen weiss ich zuwenig. Einige werden blauen Blutes sein, mancher Zeh geruht nach längerem Betrieb diese adlige Farbe anzunehmen, das sei indes nicht Teil dieses Textes, welcher sich um Wunder dreht. Ein Wunder des besonders wunderlichen Typs, von dem ich hier spreche, konnten drei weise Läuflinge aus dem Abendlande kürzlich erleben.

Einer davon war ich.

Wir hatten uns zu einem längeren Laufe im schönen Nordschwarzwald verabredet, 18 Kilometer waren geplant gewesen, unter genussreicher Einbeziehung der Gertelbachschlucht mit den Gertelbach-Wasserfällen. Barg diese düstere Schlucht den Keim für das folgende Wunder in sich? Es wäre nicht das erste Mal, denn immerhin stürzte Sherlock Holmes nahe den Reichenbachfällen im Kampf mit Professor Moriarty zu Tode, um seinem Freund Dr. Watson später, viel später, wohlbehalten gegenüber zu treten.

Ein frühes Wunder? Nein, Holmes war natürlich nicht zu Tode gestürzt, er hatte sich vor den Häschern Moriartys verborgen gehalten, um der gesamten Verbrecherorganisation das Handwerk zu legen.
Wir können damit die Vermutung widerlegen, dass Wasserfälle stets Wunder auslösen. Wasserfälle sind keine Wunderquelle.

Natürlich sind Wasserfälle alleine nicht die einzige Möglichkeit gewesen, die ich in Betracht gezogen hatte. Der düstere Schwarzwald daselbst könnte Schuld tragen, die Mondphasen, etwaige Flüche von Hexen, geologische Verwerfungen, schlichte Rechenfehler, magische und magnetische Steine, und viele mehr hatte ich erwogen und verworfen.

Auch die Illuminaten.

Illuminaten sind immer verdächtig, ob sie wollen oder nicht.

Aber die waren’s auch nicht.

Schlussendlich kam ich auf die Lösung. Achtzehn Kilometer hatten wir geplant gehabt, einunddreißig sind wir gelaufen. Was in aller Welt könnte die Strecke fast verdoppelt haben? Was in aller Welt – meinetwegen auch etwas, das nicht von dieser Welt ist? Von irgendeiner anderen, es gibt schließlich genügend Welten, mit denen wir Menschen im regen Austausch stehen. Manche jedenfalls. Jene mit ihrer eigenen Welt, in der sie leben.

Kilometer werden mehr. Nicht das erste Wunder der wundersamen Vermehrung.

Brot hatten wir angeblich schon, Wein auch. Jesus hieß der Multiplikator, dem das angedichtet wird.

Geld kennen wir ebenfalls, das macht die Europäische Zentralbank.

Und Kilometer? Das tun Läuflinge.

Läuflinge vermehren Kilometer.

So einfach ist das.