Ich brauche es nicht (mehr).

Manche Leute behaupten, Morgenstund’ habe Gold im Mund. Als ausgeprägter Morgenmuffel kann ich das nur insofern bestätigen, als ich mit diesem vollen Mund lieber schweige als zu reden.
Dummerweise hält sich bei langen Läufen die Unsitte, um sechs Uhr früh (oder noch früher) zu starten. Früher, zu meinen Ultra-Anfängen, habe ich das klaglos hin- und in Kauf genommen.

Mittlerweile sehe ich das differenzierter.

Es gibt ja Leute, die behaupten, Morgenstund’ habe Gold im Mund. Als ausgeprägter Morgenmuffel kann ich das nur insofern bestätigen, als ich mit diesem vollen Mund lieber schweige als zu reden.
Dummerweise hält sich bei langen Läufen die Unsitte, um sechs Uhr früh (oder noch früher) zu starten.

Ich möchte die Zeit nochmals betonen, damit alle die Tragweite (oder auch Tragik?) dieser Uhrzeit, die eigentlich eine Unzeit ist, wirklich zur Gänze erfassen.

Sechs Uhr.

In Worten: sechs.

Uhr.

Am Morgen.

Sechs Uhr, das ist mal locker zwei Stunden vor dem Aufstehen, und vier vor dem Aufwachen. Ihr lest schon richtig: das Aufstehen liegt bei mir vor dem Eintreten des Wachzustands.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle etwas weiter ausholen, denn obzwar ich mich mit den obigen Sätzen als Morgenmuffel präsentiert habe, scheint mir eine ausführliche Darstellung des täglichen Wachtumsprozesses (Wachtum, nicht WachStum!) geboten.
Aufstehen, wollen manche Menschen wissen, sei wie ein kleiner Tod. Ich erlaube mir, dieser Auffassung zu widersprechen. Eine einfache Überlegung brachte mich zu einer anderen Sichtweise, denn selbst wenn es sich anfühlen mag, als würde man dem Lebensglück des Schlafes entrissen, so zeigt mir die nachfolgende Phase meines Daseins weitreichende Parallelen zur Geburt.

Wie komme ich dazu?

Nun, zunächst tauche ich aus einer unbewussten Existenz in ein, ich nenne es halb-bewusstes Dasein auf, in dem ich eine Welt um mich herum wahrnehme. Etwas später werde ich mir meiner Selbst bewusst, öffne zunächst ein Auge halb, wobei ich bemüht bin, Sinneseindrücke nur sehr dosiert in mich hineinzulassen, damit die Verarbeitung nicht überlastet wird. Schließlich muss mein Hirn sich erst daran gewöhnen, dass diese Umwelt über fünf Sinne Informationen auf es loslässt.

Ich mache die ersten, anfangs noch tapsigen Schritte und freue mich über meinen ersten selbstständigen und unfallfreien Toilettengang.
Kurze Zeit später kann ich schon mit Grunzlauten und sparsamen Gesten kommunizieren. Eine Form der Interaktion mit anderen Menschen, die sich im weiteren Verlauf zu Ein- und Mehrwortsätzen steigert, bis ich ein, zwei Stunden später als der ausgewachsene Mensch durchs Leben schreite, als der ich tags zuvor ins Bett gegangen bin.

Übrigens vermag ich dem Ausspruch, wonach Morgenstund’ Gold im Mund habe, nur insofern zuzustimmen, als “man” mit vollem Munde bekanntlich nicht sprechen soll. Ein Gebot, an das ich mich halte (ich kann eh’ nicht anders).

Kurzum: frühes Aufstehen, besonders zu niedrigen einstelligen Uhrzeiten, ist für mich eine extreme Herausforderung. Dementsprechend muss ich besonders motiviert sein, um mich einer solchen zu stellen. Ein Ultramarathon, wie zum Beispiel der 100er am Leipziger Auensee, kann das liefern. Vielmehr: er konnte, denn früher, zu meinen Ultra-Anfängen, habe ich den nächtlichen Tagesbeginn klaglos hin- und in Kauf genommen.

Das tat ich allerdings nicht, ohne meine Schlafmenge zu optimieren, indem ich zu psychisch und zeitlich wirksamen Maßnahmen griff.
Machen wir uns nichts vor: zwischen 4:59 und 5:00 Uhr liegt nicht nur eine Minute. Dazwischen sind Welten! Noch deutlicher wird der Kontrast, wenn der Wecker um 5:01 Uhr zu piepsen beginnt, denn das ist schon nach Fünf!

Zudem galt – und gilt! – es, ab dem Start rückwärts zu rechnen, und dabei jede Handlung auf ihren Zeitbedarf und die Notwendigkeit ihrer Ausführung zu prüfen. Muss ich vor dem Start wirklich Zähne putzen? Hierbei stehen drei Minuten zur Disposition, die ich nicht gedankenlos aufs Spiel setzen möchte. Stinken werde ich sowieso…
Dass ich meine Klamotten am Vorabend richte, versteht sich nicht nur des zeitlichen Aufwands halber von selbst, nein, auch kognitiv habe ich zu früher Stunde in etwa die Fähigkeiten von 250 Gramm Gouda. Mittelalt. Ich muss schon froh sein, wenn die Zahl der getragenen Socken mit der Anzahl meiner Füße übereinstimmt. Also Kleidung abends herrichten, Schuhe mit den Spitzen in Gehrichtung.

Frühstück? Der Lauf ist lang genug, und unterwegs gibt’s was zu futtern. Also reicht mir eine Banane, die ich mir auf dem Weg zu Start geschwind in den Mund drücke.

Wenn ich am Beispiel von Leipzig bleibe, so befindet sich der Campingplatz, auf dem ich zu residieren pflegte, etwa zehn Gehminuten vom Start entfernt. Mit zehn Minuten Vorbereitung und fünf Minuten Puffer, die ich mir mühsam abgerungen habe, hatte ich den Wecker auf 5:35 Uhr stehen – 5:36 Uhr vielmehr, um eine weitere Minute herauszuschinden.

Und war immer pünktlich am Start, meistens sogar zu früh.

Bisweilen hatte ich die Rechnung aber ohne den Wirt in Form von Mitläufern gemacht. Sei es, dass einer glaubte, er müsse unbedingt um halb fünf aufstehen. Wozu, frage ich mich noch heute. Will er eine Stunde Zeitung lesen? Auf dem Klo vielleicht? Wo die Lauferei doch bekanntlich die Peristaltik anregt, und ein ganzer Tag Zeit ist, sich dem menschlichen Rühren hinzugeben. Wohlgemerkt, ich rede von normalen Menschen wie mir selbst, nicht von Leuten, die 100 km unter 9 Stunden (oder noch schneller) abrennen.

Also weniger Schlaf, gefolgt von einer Stunde Dösen.

Weiter verringert wurde die Schlafdauer bei zwei Übernachtungen im Massenlager. Eigentlich mag ich das, ich empfinde es als hochgemütliche Angelegenheit, wären da nicht zwei Begleiterscheinungen: die Spätankommer, und die Frühaufsteher (siehe oben).
Die einen treffen nach langer Anfahrt aufgedrecht und demzufolge fröhlich plaudernd um zwei Uhr nachts ein, während sich die andere Gruppe zwei Stunden später zur pervertierten Erhebung anschickt. Und wenn man schon wach ist (wach? habe ich wach getippt?), lässt man doch gerne das Licht brennen und begrüßt den Tag mit fröhlichem Geplauder.

Habe ich schon erwähnt, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn man mich in der Aufwachphase aggressiv ankommuniziert? Womöglich gar mit offenen Fragen, also solchen, die sich nicht mit “ja” oder “nein” beantworten lassen? Naive Menschen erwarten sogar eine Antwort von mir. Eine Erwartung, die alsbald einer realistischen Sichtweise weicht.

Tja, der frühe Vogel mag den Wurm fangen, ich stehe später auf und vertilge den Vogel, während er seinen Verdauungsschlaf hält.

Auch das Thema “Teilnahme an Läufen” sehe ich differenzierter. Keine Frage: es gibt Läufe, auf die ich Bock habe, weshalb ich nachts aufstehe. Leipzig, KUT usw. lohnen sich allemal. Ich muss es aber nicht mehr haben. Und ich halte, wenn ich zum Beispiel eine bestimmte Streckenlänge laufen will, nach Veranstaltungen mit humanen Startzeiten Ausschau.
Der UTMB startet gegen 18 Uhr abends und geht die Nacht durch: prima!
Die 24-Stunden-Läufe, die ich kenne, gehen zwischen 10 und 12 Uhr los: wunderbar!

Alles Zeiten, die meinem Schlafrhythmus entgegenkommen, fällt es mir doch leichter, lange wach zu bleiben, als mich aus dem Mutterleib des Schlafes reißen zu lassen.

Und wenn ich die Wahl zwischen zwei ähnlichen Läufen habe, wähle ich lieber den, der später losgeht.