{"id":3601,"date":"2018-09-15T15:24:09","date_gmt":"2018-09-15T13:24:09","guid":{"rendered":"http:\/\/das-lauferei.de\/?p=3601"},"modified":"2018-09-15T22:41:25","modified_gmt":"2018-09-15T20:41:25","slug":"die-kalte-nudel","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/das-lauferei.de\/die-kalte-nudel\/","title":{"rendered":"Die kalte Nudel"},"content":{"rendered":"

Manchmal beginnt ein schreckliches Ereignis ganz harmlos, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, oder, was auf die Situation, die zu beschreiben ich mich anschicke, besser passt: Wie ein Schneesturm, der an einem milden Wintertag \u00fcber das Land hereinbricht. Ein Ausbruch an K\u00e4lte, Wind und Schauder, dem wir Menschen schutzlos ausgeliefert sind.<\/p>\n

\"Triumph\"<\/a>
Der siegreiche Held.<\/figcaption><\/figure>\n

Doch, der Vergleich mit dem Sturm passt insofern besser, da jener sich schneller zu entwickeln scheint, als das menschliche Gehirn f\u00e4hig ist, die Ernsthaftigkeit der neuen Lage zu begreifen. F\u00fcr manche Dinge sind wir schlicht zu langsam.<\/p>\n

Dabei wollte ich nichts weiter, als satt werden.<\/p>\n

Zu diesem Zweck hatte ich mir Nudeln zubereitet, und diese ganz simpel mit Tomatensauce verspeist.<\/p>\n

Bis dahin war noch alles in Ordnung. Wohl ges\u00e4ttigt und zufrieden schickte ich mich an, das benutzte Geschirr und den Topf in die Sp\u00fclmaschine zu r\u00e4umen, als mein Blick zuf\u00e4llig in die Sp\u00fcle glitt.<\/p>\n

Dort sah ich sie.<\/p>\n

Die Nudel.<\/p>\n

Wann sagt man eigentlich Nudel und wann Pasta? Will man sich mit letzterem einen sportlichen Anstrich geben, zumindest so lange, wie noch Pasta Parties gefeiert werden? Ich f\u00fcr meinen Teil habe mir das ziemlich schnell abgew\u00f6hnt, weil ein langer Lauf keine besondere Freude darstellt, wenn ich mir am Abend vorher den Wanst vollgeschlagen habe. Umso doofer, wenn an der Strecke kein Klo, oder wenigstens ein hinreichend blickdichtes Geb\u00fcsch liegt. Kennt man in der ketogenen Paleowelt \u00fcberhaupt noch Nudeln?<\/p>\n

Ich merke gerade, wie ich vom Thema abschweife, sp\u00fcre den inneren Zwist, der mich einerseits davon abbringen will, das Erlittene erneut durchzustehen, andererseits wei\u00df ich: Es tut mir gut. Nicht umsonst gibt es den Satz „von der Seele schreiben“, denn was ich weggeschrieben habe, belastet mich nicht l\u00e4nger.<\/p>\n

Ich muss es tun, muss das Ereignis noch einmal erleben! Um meiner selbst willen, aber auch um anderen Menschen zu zeigen, dass es m\u00f6glich ist, mit viel \u00dcberwindung, H\u00e4rte gegen sich selbst und klarem Fokus auf das Notwendige, das es zu tun gilt, extreme Herausforderungen zu bestehen.<\/p>\n

Genug also des Verdr\u00e4ngens, Schluss mit der Flucht vom Thema weg!<\/p>\n

Sie lag in der Sp\u00fcle.<\/p>\n

Kalt. Schlaff. Drohend.<\/p>\n

Ich wei\u00df bis heute nicht, wie sie dorthin gekommen ist, wahrscheinlich glitt sie beim Abgie\u00dfen an ihren Artgenossinnen vorbei in Richtung Abfluss, wo sie das Gitter daran hinderte, ihren Weg zum Kanal hin fortzusetzen. Stattdessen fand sie sich dort liegend und wartete – auf mich.<\/p>\n

Die kalte Nudel!<\/p>\n

Ist euch der Anblick einer kalten Nudel, die zu allem \u00dcberfluss ausgesprochen lange in Feuchtigkeit zugebracht hat, gel\u00e4ufig. Ebensowenig kann ich beurteilen, inwieweit euch bei derlei Anblick – wie vermutlich den meisten Menschen – eiskalte Schauer \u00fcber den R\u00fccken laufen. Es soll schlie\u00dflich ausgesprochen robuste Gem\u00fcter geben, denen jedweder Ekel fremd ist.<\/p>\n

Bei einer kalten Nudel muss ich unweigerlich daran denken, was ich \u00fcber Farbe und Konsistenz von Wasserleichen las: Ein blasses, gelbliches Wei\u00df f\u00e4rbt ein glitschiges, glibberiges Etwas, dessen K\u00f6rperhaftigkeit sich gerade so wenig von einer z\u00e4hen, widerlichen Fl\u00fcssigkeit unterscheidet, dass das Ding eben nicht im Abfluss verschwindet. Schon der Gedanke erzeugt mir G\u00e4nsehaut.<\/p>\n

Es w\u00fcrde mich kaum wundern, wenn mir jemand berichtete, dass sich Leichenbeschauer mit lange gekochten und abgek\u00fchlten Nudeln auf die Arbeit mit Wasserleichen vorbereiten.<\/p>\n

Wer ein anderes Beispiel bevorzugt, kann gerne an Maden denken. Oder an Regenw\u00fcrmer.<\/p>\n

In meiner Sp\u00fcle lag immer noch die Nudel.<\/p>\n

Und au\u00dfer mir gab es niemanden, um sie von dort zu entfernen.<\/p>\n

„Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss“ sagte ich mir, und dabei ist es egal, ob es darum geht, zur Rettung einer Handtasche in ein brennendes Haus zu st\u00fcrzen, Drachen zu t\u00f6ten, die Welt vor der Zerst\u00f6rung zu bewahren, oder eben eine kalte Nudel in den M\u00fcll zu bef\u00f6rdern.<\/p>\n

Ich stehe, das wurde mir in diesem Moment schlagartig bewusst, in direkter Erbfolge von Herkules, Siegfried, 007 und dem Tapferen Schneiderlein.<\/p>\n

Helden wie ich!<\/p>\n

Helden, denen wie mir eine \u00fcbermenschliche Pflicht abverlangt wurde.<\/p>\n

Helden, die st\u00e4rker waren als ihre eigenen \u00c4ngste und Zweifel.<\/p>\n

Helden werden geboren, wenn sie st\u00e4rker sind als sie selbst.<\/p>\n

Kaum hatte sich dieser Gedanke in meinem Gehirn festgesetzt, wurde ich ruhig. Klar, ganz klar waren meine Sinne und ich nahm die Welt wie durch ein Vergr\u00f6\u00dferungsglas war. Meine ganze Aufmerksamkeit lag bei der einen Aufgabe: Die Nudel muss weg!<\/p>\n

Das „ob“ war keine Frage mehr, lediglich die praktische Umsetzung blieb mir zu kl\u00e4ren.<\/p>\n

Messerscharf wie Sherlock Holmes oder Richter Di \u00fcberdachte ich die zur Verf\u00fcgung stehenden Optionen. Der schnelle Griff mit der Hand schied nat\u00fcrlich aus. Sollte ich die Sp\u00fclb\u00fcrste zur Hand nehmen, um die Leiche in den Abfluss zu stopfen? Hierzu h\u00e4tte ich zun\u00e4chst das etwas feinere Sieb entfernen m\u00fcssen – unter gr\u00f6\u00dfter Vorsicht, denn schlie\u00dflich w\u00fcrde ich Gefahr laufen, das widerw\u00e4rtige Objekt zu ber\u00fchren.
\nAu\u00dferdem best\u00fcnde die M\u00f6glichkeit, dass sich Nudelreste zwischen den B\u00fcrstenborsten festsetzen, die ihrerseits w\u00fcrde entfernen m\u00fcssen.<\/p>\n

Das war keine sinnvolle Vorgehensweise.<\/p>\n

Handschuhe? Hier k\u00e4men nur stabile Sp\u00fcl- oder Gartenhandschuhe in Frage, die meinem Tastsinn keine, aber auch gar keine R\u00fcckmeldung geben \u00fcber die Beschaffenheit dessen, was ich da anfasse. Danach h\u00e4tte ich sie ausziehen und absp\u00fclen, oder, besser noch, gleich mit wegwerfen k\u00f6nnen. Abgesehen davon, dass ich keine solchen Utensilien zuhause habe, dr\u00e4ngte sich mir eine Frage auf: Was w\u00e4re, wenn die kalte Nudel von meinem Griff zerdr\u00fcckt wird? Dann h\u00e4tte ich es nicht mehr mit nur einer W\u00fcrgsamkeit zu tun, sondern gleich mit mehreren! Szenen aus Horrorfilmen tauchten vor meinem geistigen Auge auf, und ich erinnerte die Geschichte von der Hydra, der f\u00fcr jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwuchsen. Nun denn, Herakles vermochte der Hydra den Garaus machen – ich beseitige die Nudel!<\/p>\n

Und w\u00e4hrend dieser die St\u00fcmpfe mit Hilfe einer Fackel versengte, wodurch keine K\u00f6pfe nachwachsen konnten, beschloss ich, mich einer Gabel zu bedienen. Ich bewaffnete mich mit schnellem Griff in die Besteckschublade, schob das gezinkte Hilfsmittel behutsam unter die kalte Nudel, bevor ich sie beherzt in den offen bereitstehenden M\u00fclleimer warf.<\/p>\n

Hinfort, ekles Gew\u00fcrm! rief ich ihr nach, als ich den Deckel zufallen lie\u00df.<\/p>\n

So wurde die Menschheit um eine Heldentat reicher.<\/p>\n

Es soll aber niemand davon singen – Homer ist eh‘ tot, und ich selbst genie\u00dfe meinen Triumph lieber still und bescheiden.<\/p>\n

Ein Mann wei\u00df schlie\u00dflich, was er getan hat.<\/p>\n

Das gen\u00fcgt ihm.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Bei Nudeln denken viele Sportler an Pasta Party, allerdings lassen sie Nudeln nat\u00fcrlich auch ohne Party, und sogar zum Hunger stillen im Alltag genie\u00dfen. Neulich kam es bei mir zu einem schrecklichen Ereignis, \u00fcber das zu sprechen mir immer noch schwerf\u00e4llt. Ich will es trotzdem tun. Es ist eine Geschichte von Gefahr und Heldenmut.<\/p>\n","protected":false},"author":22,"featured_media":3608,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[350,351,352],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3601"}],"collection":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/22"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=3601"}],"version-history":[{"count":39,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3601\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":3645,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3601\/revisions\/3645"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/media\/3608"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=3601"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=3601"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=3601"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}