{"id":3319,"date":"2016-06-27T00:16:57","date_gmt":"2016-06-26T22:16:57","guid":{"rendered":"http:\/\/das-lauferei.de\/?p=3319"},"modified":"2016-06-27T09:19:38","modified_gmt":"2016-06-27T07:19:38","slug":"ueber-dnf-eigenverantwortung-und-nanny-races","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/das-lauferei.de\/ueber-dnf-eigenverantwortung-und-nanny-races\/","title":{"rendered":"\u00dcber DNF, Eigenverantwortung und Nanny Races"},"content":{"rendered":"

Nanny State wird ein Staat genannt, der besonders stark in die Freiz\u00fcgigkeit seiner B\u00fcrger eingreift. \u00dcberf\u00fcrsorglichkeit kennen wir von Helikopter-Eltern, deren Kinder bis zum Erreichen der Vollj\u00e4hrigkeit in Watte gepackt werden.<\/p>\n

W\u00e4hrend sich der Nanny State also durch ein \u00dcberma\u00df an Bevormundung und Kontrolle auszeichnet (selbstverst\u00e4ndlich zum Wohle der B\u00fcrger), spielen die flugunf\u00e4higen Flugeltern dasselbe Spiel ein wenig h\u00e4tscheliger. Treibende Kraft scheint in beiden F\u00e4llen \u00c4ngstlichkeit gepaart mit Misstrauen zu sein. Den Sch\u00fctzling kann man halt nichts alleine tun lassen.<\/p>\n

Und wie ist das mit Ultratrails, wenn das Wetter schlecht ist? Oder gef\u00fchlt zu viele Teilnehmer aussteigen? K\u00fcrzlich rannte eine Sau durchs Dorf. Sie wurde von Leuten getrieben, die vom schlechten Wetter beim Zugspitz Ultratrail erfahren, und flugs eine DNF-Quote ermittelt hatten (DNF = did not finish, also das Rennen abgebrochen). Flugs spaltete sich die Gemeinde in zwei Lager: jene, die fordern, der Veranstalter h\u00e4tte das Rennen abbrechen (oder verk\u00fcrzen, umleiten,….) m\u00fcssen. Und jene, die das nicht tun.<\/p>\n

Selbstverst\u00e4ndlich gibt es noch die zweieinhalbte, die Randgruppe, die solche Veranstaltungen grunds\u00e4tzlich und \u00fcberhaupt und total f\u00fcr unverantwortlich erkl\u00e4rt.<\/p>\n

Ich stelle mir die Frage: gibt es eine moralische Pflicht eines Veranstalters? Eine Art F\u00fcrsorgepflicht? Und worin k\u00f6nnte diese bestehen?<\/p>\n

Wo w\u00fcrde ich die Grenze ziehen?<\/p>\n

Ich bringe den Spannungsbogen sofort zum Einsturz, indem ich erkl\u00e4re, dass ich die Grenze, innerhalb derer ich aus moralischer Sicht eine Pflicht eines Veranstalters zu etwas <\/em>(wozu, dazu sp\u00e4ter mehr) ableiten w\u00fcrde, \u00e4u\u00dferst eng ziehe.<\/p>\n

Wovon reden wir eigentlich?<\/p>\n

Menschen treiben Sport. Ich vermeide das arg strapazierte Wort extrem<\/em>, gebe aber gerne zu, dass hundert Kilometer im Hochgebirge ungew\u00f6hnlich sind. F\u00fcr gew\u00f6hnlich – und das ist der Standardfall, den ich hier unterstelle – wei\u00df ein Teilnehmer einigerma\u00dfen einzusch\u00e4tzen, worauf er sich einl\u00e4sst. Beispielsweise ist ihm ein deutlicher Unterschied zum St\u00e4dtemarathon bewusst.<\/p>\n

Wenn ich mich mit erfahrenen Bergwanderern und Bergsteigern unterhalte, wird schnell eines klar: im Gebirge gibt der Berg vor, ob und wann die Strecke ver\u00e4ndert, oder das Vorhaben verschoben oder abgebrochen werden muss.
\nUnterschiedliche Menschen mit verschiedenen F\u00e4higkeiten (und Risikobereitschaft!) treffen Entscheidungen, die genauso verschieden ausfallen k\u00f6nnen. Wo der eine schon umkehrt, beginnt der andere, sich erst richtig wohl zu f\u00fchlen.<\/p>\n

Es sind individuelle Entscheidungen, die da getroffen werden. Es kann nur jeder f\u00fcr sich selbst bestimmen, wann genug <\/em>ist. Da braucht kein Mensch \u00fcber eine DNF-Quote meckern, im Gegenteil: jeder, der frei f\u00fcr sich selbst beschlossen hat, das Risiko eines Sturzes auf glatter Strecke, bei schlechtem Wetter nicht einzugehen, verdient Respekt ob seines Entschlusses. Da ist ein DNF beileibe Grund, stolz auf die Entscheidung zu sein, denn leicht wird sie niemandem gefallen sein. In Kenntnis der eigenen Grenzen zu verzichten ist ein h\u00f6chst souver\u00e4ner Akt der Selbstbestimmung!<\/p>\n

Wie ist das nun mit dem Veranstalter? Den ZUT bin ich dreimal gelaufen, jedes Mal bei gutem Wetter – wenn die Strecke an manchen Stellen auch sehr rutschig war. Aber alles harmlos. Als ich 2012 den UTMB gefinished hatte, war die Strecke wegen des \u00fcblen Wetters verk\u00fcrzt worden. Schlamm, Matsch, Regen, Schnee – alles dabei.
\nHier hatte der Veranstalter eine Entscheidung getroffen. Musste er das tun?<\/p>\n

Ich vermag es nicht zu beurteilen, will es auch nicht. Mir ist klar, dass kein Veranstallter aus Jux und Tollerei sagt: „ach, dieses Jahr machen wir es mal k\u00fcrzer“.<\/p>\n

Mein Blick f\u00e4llt auf das Buch Feet in the Clouds<\/em> von Richard Askwith, welches Fell Running, eine ziemlich heftige britische Spezialit\u00e4t, zum Thema hat. In einem Kapitel setzt er sich mit Unf\u00e4llen, Todesf\u00e4llen und der Frage auseinander, wie sich der Charakter des Sports ver\u00e4ndert. Ver\u00e4ndern w\u00fcrde, wenn man dem Veranstalter die gesamte Verantwortung zuschiebt.<\/p>\n

Bezeichnend ist ein Absatz, in welchem ein wachsender Teilnehmerkreis beschrieben wird, der mit der Erwartung in ein Rennen geht, jemand<\/em> w\u00fcrde schon daf\u00fcr Sorge tragen, dass sie gut und sicher ankommen. Solche Leute scheint es zu geben. Der Veranstalter muss…? Gar nichts muss er. Es gibt keine Garantie f\u00fcr die Zielankunft, m\u00f6chte ich solchen Leuten sagen. Es gibt auch keine Garantie daf\u00fcr, dass ihr unbeschadet durchkommt. Noch weniger, wenn ihr auf Ausr\u00fcstung und \/ oder Vorbereitung verzichtet. Je trailiger, je l\u00e4nger, desto ungewisser ist der Erfolg. <\/p>\n

Deswegen machen wir das doch!<\/p>\n

Wer will schon wissen, was ihn unterwegs erwartet?<\/p>\n

Wer mit Gewissheit ankommen will, darf City-Marathon laufen.<\/p>\n

Wer abseits fester Wege, in sch\u00f6ner Landschaft und eventuell schlechtem Wetter lange Strecken l\u00e4uft, tut dies (das unterstelle ich mit diesen meinen Worten), weil er f\u00fcr sich selbst Verantwortung \u00fcbernehmen will. Weil ihn die Vorstellung begeistert, eine vorsichtige Fu\u00dfzehe aus der Komfortzone herausstrecken zu k\u00f6nnen.<\/p>\n

Sicherheitsgarantie?<\/p>\n

Ankommensgarantie?<\/p>\n

Soll der Veranstalter noch den Rucksack packen, Schuhe schn\u00fcren und an den Verpflegungsstellen fragen: hast du auch genug gegessen?<\/em><\/p>\n

Mir gef\u00e4llt ein Zitat aus dem oben erw\u00e4hnten Buch. Auf die M\u00f6glichkeit einer Schlechtwetter-Route angesprochen, antwortet Selwyn Wright, der ein Rennen um den Ort Langdale herum organisiert:
\n„Wenn man den Veranstalter daf\u00fcr verantwortlich macht, das Rennen so sicher wie m\u00f6glich zu machen, nimmt man die Eigenverantwortung von den L\u00e4ufern weg. Ich will nicht, dass die Leute denken, sie brauchen sich bei schlechtem Wetter keine Sorgen machen. Ich will, dass sie sich Sorgen machen und Verantwortung f\u00fcr sich \u00fcbernehmen (…).“<\/em><\/p>\n

Wrights Zitat schlie\u00dft mit einem wunderbaren Satz:<\/p>\n

„Das letzte was wir wollen, ist Zulauf von Leuten, die glauben, Fell Running sei sicher.“<\/em><\/p>\n

Wenn wir Fell Running durch Ultratrails, besser noch, Trails allgemein ersetzen, haben wir ein sehr starkes Argument dagegen, dem Veranstalter von vorne herein die ganze Verantwortung zuzuschieben.<\/p>\n

Wie gesagt: wir tun diesen Sport eben weil wir Freiheit erleben wollen.<\/p>\n

Und Freiheit ist nunmal auch die Freiheit, auf die Schnauze zu fallen.<\/p>\n

Wo aber w\u00fcrde ich den Veranstalter in die Pflicht nehmen wollen? Nun, er gibt (Ausgenommen Orientierungsl\u00e4ufe, Fell Running und \u00e4hnliche Dinge) die Strecke vor und hat w\u00e4hrend der Veranstaltung einen deutlichen Informationsvorsprung. Ich erkenne darin zwei Aspekte, die den Veranstalter betreffen:<\/p>\n

Erstens: Weil er die Route vorgibt, muss er ihren Zustand wenigstens \u00fcberpr\u00fcft haben. Damit meine ich nicht, dass sie vom Regen rutschig wird, sondern dass zum Beispiel Holzstege nicht morsch (oder es gibt ein Warnschild), oder Halteseile ordentlich verankert sind. Wenn das Wetter nicht mitspielt, muss ein jeder f\u00fcr sich selbst entscheiden.
\nJa, ich bin mir dar\u00fcber im Klaren, dass viele L\u00e4ufer ein gro\u00dfes Ego mit sich herumschleppen. Ein Ego, dass sie zum Beispiel dazu verleitet, mit unzureichender Ausr\u00fcstung unterwegs zu sein. Was tun? Wenn man mich fragt: nichts.
\nWie gesagt: Freiheit ist auch die Freiheit,…. <\/p>\n

Zweitens: Die besseren Informationen k\u00f6nnen durchaus dazu f\u00fchren, dass der Veranstalter eine Entscheidung trifft, die ein vern\u00fcnftiger L\u00e4ufer auch treffen w\u00fcrde. Ich w\u00fcrde mich zwar als routinierten Ultratrailer bezeichnen, von der intuitiven Wahrnehmung einheimischer Alpinisten kann sich wahrscheinlich der Gro\u00dfteil eines jeden Teilnehmerfeldes eine dicke Scheibe abschneiden. Da hei\u00dft es f\u00fcr mich: ich vertraue der Entscheidung jener Leute, die ich selbst fragen w\u00fcrde, wenn ich sie fragen k\u00f6nnte: wie schaut’s aus, h\u00e4lt das Wetter? Geht das noch zu laufen?<\/em><\/p>\n

F\u00fcr alles andere, vor allem f\u00fcr die situativen Entscheidungen von „mir ist flau im Magen, wenn ich daran denke, dass ich dort laufen muss<\/em> \u00fcber verdammt kalt, und ich habe nur ein T-Shirt an<\/em> bis zu Trailschuhe brauch‘ ich nicht, ich laufe daheim im Wald auch mit Stra\u00dfenschuhen<\/em> ist jeder Teilnehmer selbst zust\u00e4ndig.<\/p>\n

In L\u00e4uferkreisen kursieren Geschichten von Leuten, die sich kurz nach dem Start ihres Rucksacks samt Wetterschutzkleidung entledigt haben, um einige Stunden sp\u00e4ter, nach <\/em>dem Wetterumschwung, unterk\u00fchlt und entkr\u00e4ftet in zweitausend Metern H\u00f6he herumwankten.<\/p>\n

Sowas aber auch.<\/p>\n

Welcome to Life. Enter at own risk.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Nanny State wird ein Staat genannt, der besonders stark in die Freiz\u00fcgigkeit seiner B\u00fcrger eingreift. \u00dcberf\u00fcrsorglichkeit kennen wir von Helikopter-Eltern, deren Kinder bis zum Erreichen der Vollj\u00e4hrigkeit in Watte gepackt werden.
\nUnd wie ist das mit Ultratrails, wenn das Wetter schlecht ist? Oder gef\u00fchlt zu viele Teilnehmer aussteigen? Wollen wir ein Nanny Race?<\/p>\n","protected":false},"author":22,"featured_media":0,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3319"}],"collection":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/22"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=3319"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3319\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":3324,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3319\/revisions\/3324"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=3319"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=3319"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=3319"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}