Motivationsseminar der ganz harten Sorte. Ich sehe ihn vor mir, den Tr\u00e4ner: die Laune genauso blenden wie seine Z\u00e4hne, dunkler Ma\u00dfanzug, gegeltes Haar…. Ja, ich pflege meine Klischees! <\/p>\n
Die Dramaturgie der Veranstaltung sieht vor, dass der sorgsam aufgebaute Spannungsbogen in einen einzigen Satz m\u00fcndet. Ein Satz von universeller Weisheit, g\u00fcltig f\u00fcr alle Zeiten. Die Spannung steigt im gleichen Ma\u00dfe, wie sich erwartungsvolle Stille \u00fcber das Publikum senkt. Und schon sp\u00fcre ich die Wirkung des Satzes. <\/p>\n Ich denke, ich laufe den Marathon unter drei Stunden. <\/p>\n Denke weiter, es ist m\u00f6glich! <\/p>\n …zweizwanzig….achwas, 1:50!….halbe Stunde….in Nullkommanix!….ja, es ist m\u00f6glich!….ich bin vor dem Start im Ziel!<\/p>\n Ich denke, also ist es m\u00f6glich! <\/p>\n Ja, JA, JAAA, TSCHAKAAAAAAAAA………….! <\/p>\n \u00c4h.<\/p>\n Nein.<\/p>\n Wie war das gleich wieder? „Wenn es denkbar ist, ist es auch m\u00f6glich“.<\/p>\n Es ist ein Satz, der von jener Sorte Motivationstr\u00e4ner ge- beziehungsweise missbraucht wird, deren Platit\u00fcden jeder sofort und gerne zustimmt. Tr\u00e4ner, deren Worte bei weiterem Nachdenken jedoch Tr\u00e4nen in rollende Augen treten lassen.<\/p>\n Wird ein einzelner Satz einfach so aus seinem Zusammenhang gerissen, um danach in einer Umgebung wieder aufzutauchen, die ihm nicht gerecht wird, kommt mir das wie Diebstahl vor. Als w\u00fcrde ein Diamant aus seiner Fassung gebrochen, weil man ihn so leichter verkaufen kann. <\/p>\n „Was denkbar ist, ist auch m\u00f6glich“ lebt stattdessen von der Fassung in Form der ihn umgebenden S\u00e4tze, stellt man ihn einfach anderso vor, ist es ein banaler Satz. Eine leicht widerlegbare Behauptung, die nur deshalb im Seminar wirkt, weil so gerne das Zauberwort „Wittgenstein“ dazu genannt wird. <\/p>\n Der Satz ist von Wittgenstein, deswegen m\u00fcsst ihr eurem Tr\u00e4nerguru glauben. <\/p>\n Ich hoffe, das Zerrbild f\u00e4llt auf. <\/p>\n Zitate sind super, wenn sie auf Substanz hindeuten. Unser Satz ist oft nur eine von vielen H\u00e4uten einer Zwiebel. Zieht man eine Haut ab, gelangt man an die n\u00e4chste. Und so weiter, bis am Ende feststeht, dass nichts da war au\u00dfer H\u00fclle. <\/p>\n Was hat das mit Laufen zu tun? Nichts. Noch nichts. <\/p>\n Wir kratzen weiter an der Oberfl\u00e4che, bewegen wir uns doch ein St\u00fcck weiter zu einer Stelle, an der wir hoffen d\u00fcrfen, mehr zu finden als – nichts.<\/p>\n Dazu bleiben wir bei Wittgenstein, ich erspare ihm nicht, auch von mir f\u00fcr meine Zwecke vereinnahmt zu werden. Wenigstens dient es mit der Kurzweil meiner Leserschaft einem guten Zweck. Im Tractatus, nein, ich bleibe kurz bei Wittgenstein selbst, weil ich den Typen ziemlich schr\u00e4g finde. Erz\u00e4hlte er der Pr\u00fcfungskommission bei der Doktorpr\u00fcfung doch wohlwollend, sie w\u00fcrden seine Gedanken eh‘ nicht kapieren. „Ich muss ordentlich zitieren.“ Das schreibt ihr bis morgen hundert Mal. Mit Quellenangabe. <\/p>\n Nun steht im Tractatus also jener unschuldige Satz: „wenn man etwas denken kann, ist es auch m\u00f6glich“. Aus dem Zusammenhang herausgesch\u00e4lt, mutterseelenalleine ohne die ihn st\u00fctzenden, ihn ins rechte Licht setzenden S\u00e4tze ger\u00e4t er leicht auf die eingangs erw\u00e4hnten Abwege. <\/p>\n Lassen wir aber die Hilfe seiner Vorfahren zu, so kommen wir nicht umhin, seinen auf die Sprache eingeschr\u00e4nkten Geltungsbereich wahrzunehmen. Mit der „M\u00f6glichkeit“ meint L\u00e4uferfreund Ludwig n\u00e4mlich, dass alles was irgendein „Ding“ tun oder sein kann, schon irgendwie in diesem Ding steckt. Als M\u00f6glichkeit. M\u00f6glichkeiten eines Laufshirts. <\/p>\n Wird Wittgenstein mit „dem“ Satz zitiert, handelt es sich um Sprachphilosophie. Hat also mit dem Ansatz der Seminarbrangsche wenig zu tun. Das solcherart erworbene Diebesgut packen wir in den Sack, auf dem jetzt nicht mehr „Sprachphilosophie“, sondern etwas wie „erkenne dich selbst“ steht. Oder „Potentialanal\u00fchse“, wenn wir uns fremdwortreich ausdr\u00fccken wollen. Bei den Dingen wissen wir, dass sie „M\u00f6glichkeiten“ haben. Weil ein Ding dumm ist, kennt es seine M\u00f6glichkeiten nicht, so wie wir das tun. Das hei\u00dft: Wie ist das mit unseren M\u00f6glichkeiten? Wir sollten, nein wir m\u00fcssen sie kennen, damit wir sie nutzen k\u00f6nnen. <\/p>\n Schwupps, sind wir mittendrin im Motivationsthema!<\/p>\n Wenn ich meine Grenzen auslote, wei\u00df ich, dass ich mich innerhalb dieser Grenzen, im Rahmen meiner M\u00f6glichkeiten, bewegen kann. Dann kann ich denken, dass es, was es auch immer ist, hinhaut. Marathon in Nullvierzig? Vergiss‘ es. <\/p>\n Marathon in…wasauchimmer? Freilich!<\/p>\n Ist das Mentaltraining? Vielleicht. <\/p>\n Hat es mit Zielfindung und dergleichen zu tun? Banales Zeug? Aber sicher! <\/p>\n L\u00e4uflingsfreund Ludwig, den ich zum Schluss wieder mi\u00dfbrauche, k\u00f6nnte gesagt haben… nein, ich lege ihm keinen Satz in den Mund.<\/p>\n Wenn es m\u00f6glich ist, kann man es auch denken. Und dann kann man es tun.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":" Motivationsseminar der ganz harten Sorte. Ich sehe ihn vor mir, den Tr\u00e4ner: die Laune genauso blenden wie seine Z\u00e4hne, dunkler Ma\u00dfanzug, gegeltes Haar…. Ja, ich pflege meine Klischees! Es wird still im Saal, knisternde Spannung ist sp\u00fcrbar. Das Publikum fiebert einer Weisheit entgegen.<\/p>\n","protected":false},"author":22,"featured_media":0,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[6,189,190,188],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2433"}],"collection":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/22"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=2433"}],"version-history":[{"count":1,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2433\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":2434,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2433\/revisions\/2434"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=2433"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=2433"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=2433"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}
\nDann wird er ausgesprochen. Er, der Satz: „was denkbar ist, ist auch m\u00f6glich!<\/em>„. Von Wittgenstein! Einem Giganten der Philosophie! Wenn der es sagt, muss es einfach stimmen! <\/p>\n
\nWittgenstein. Gutsituierter Industriellensohn, Architekt, Typograph, Philosoph. Vor allem Philosoph, der den ber\u00fchmten Tractatus wenigstens teilweise im Sch\u00fctzengraben verfasste. Zu jener Zeit tobte gerade der erste Weltkrieg. Allzu sehr wird er nicht immer getobt haben, so dass Ludwig Zeit zum Schreiben blieb.<\/p>\n
\nUnd im Vorwort des Tractatus schreibt er, er habe sich nicht die M\u00fche gemacht, nachzupr\u00fcfen, ob seine Gedanken schon jemand anderes gehabt hatte. An die Adresse moderner Polit- und Prestigedokt\u00f6rchen: Leute, ihr seid nicht Wittgenstein. Ihr m\u00fcsst leider ordentlich zitieren! <\/p>\n
\nEin Laufshirt kann geb\u00fcgelt oder zerkn\u00fcllt sein, stinken oder nicht, am K\u00f6rper getragen werden oder nicht. Undsoweiter. <\/p>\n
\nWas f\u00e4ngt der gemeine L\u00e4ufling jetzt damit an? Ich schlage vor, wir klauen den Satz aus dem Tractatus, so wie viele andere vor uns. Wir bleiben aber nicht dabei stehen, sondern nehmen noch ein paar andere Gedanken mit. Wo wir schon mal da sind….<\/p>\n
\nWortspiel am Rande: ich kann mir denken, dass das m\u00f6glich ist. Alle m\u00f6glichen (!) Zweifel kann ich mir sparen! <\/p>\n