{"id":2060,"date":"2013-10-16T23:50:01","date_gmt":"2013-10-16T21:50:01","guid":{"rendered":"http:\/\/das-lauferei.de\/?p=2060"},"modified":"2013-10-17T09:19:33","modified_gmt":"2013-10-17T07:19:33","slug":"tk_jackwolfskinisierung","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/das-lauferei.de\/tk_jackwolfskinisierung\/","title":{"rendered":"Jackwolfskinisierung"},"content":{"rendered":"

Als der Sauerl\u00e4nder F\u00f6rster Jacobinius Sperlingsschnabel im Jahre 1864 einige Stoffreste zu einem Wams vern\u00e4hte, h\u00e4tte er sich wohl kaum tr\u00e4umen lassen, dass sein Lebenswerk dereinst Inspiration f\u00fcr einen Blogartikel werden k\u00f6nnte.
\nDieser rechtschaffene Mann, der seinen Namen im Laufe der Jahre zun\u00e4chst in Jacobus Fuchsschwanz, dann in Jakob Wolfsfell und schlussendlich jenen Namen \u00e4nderte, den wir heute mit dem allseits bekannten, allt\u00e4glichen, und vor allen Dingen tatzenhaften Signet verbinden, hatte nichts weiter im Sinn, als sich in den bitterkalten N\u00e4chten auf dem Hochsitz ein wenig W\u00e4rme zu verschaffen.<\/p>\n

Wie h\u00e4tte er auch ahnen k\u00f6nnen, dass sein Schaffen in sp\u00e4teren Jahren zum Symbol f\u00fcr ein Ph\u00e4nomen werden sollte, welches eine hochangesehene Marke mit zunehmender Verbreitung zuerst allt\u00e4glich, und schlussendlich peinlich werden l\u00e4sst: die Jackwolfskinisierung.<\/p>\n

Dabei begannen die Geschicke der Marke mit dem Pfotenabdruck \u00fcberaus vielversprechend. Die gute Qualit\u00e4t der von Jacobinius und seiner Frau gefertigten W\u00e4mser sprach sich schnell herum, und nach kurzer Zeit waren s\u00e4mtliche M\u00e4gde der n\u00e4heren Umgebung in einer eigenen N\u00e4herei angestellt.
\nDas, was wir heutzutage als „Expansion“ kennen, nannte Jacobinius‘ Enkel, der das Unternehmen sp\u00e4ter f\u00fchrte, schlicht „wachsen“. Unter seiner \u00c4gide gedieh der Erbhof mit der Tatze pr\u00e4chtig, hervorragende Kleidungsst\u00fccke, sp\u00e4ter gar Rucks\u00e4cke, entsprachen den Bed\u00fcrfnissen des Wald- und Waidmannes. Drei weitere Generationen sp\u00e4ter griff die aufkommende Outdoor-Bewegung gerne zu den Produkten des Hauses.<\/p>\n

„Die Pfote“, das war lange Zeit Erkennungszeichen outdoorbegeisterter Lehrerpaare. Gute Qualit\u00e4t, gute Funktion, und alle waren zufrieden.<\/p>\n

Bis, ja bis der Schalter umgelegt wurde.<\/p>\n

Was kam zuerst?
\nWaren es die Schuhe, die auf einmal „auch noch“ ins Sortiment aufgenommen wurden? Oder begann das Ende damit, dass mindestens zweimal im Jahr eine neue „Kollektion“ ihren Einzug in den Katalog hielt? Etwas anders aussehend, ansonsten genau wie vorher.
\nEine st\u00e4ndig neue, verwirrende Vielfalt weitgehend \u00e4hnlicher Produkte. Wobei der Produktmanager gemeinsam mit dem Marketing eher von Produktlinien und Marktsegmenten sprechen w\u00fcrde.<\/p>\n

Aber „neu“. Der ideale Kunde kauft einmal, tr\u00e4gt im Urlaub, und wirft weg. Klamotten vom letzten Jahr taugen allenfalls noch f\u00fcr die Kleidertonne.<\/p>\n

Muss ich, will ich schreiben, dass das Design zum Erkennungsmerkmal dessen wurde, was „neu“ war?
\nNein, ich will nicht. Ich tue es nicht, denn ich w\u00fcrde damit ausdr\u00fccken, dass sich gute Funktion und gutes Aussehen ausschlie\u00dfen.
\nIch w\u00e4re der letzte, der das behaupten w\u00fcrde, denn nicht erst das Bauhaus wusste, dass Form der Funktion folgt.
\nEtwas Funktion muss allerdings sein! Immer \u00f6fter fiel auf, dass funktional kaum ver\u00e4nderte Dinge als „neu“ angepriesen wurden.
\nF\u00fcr die Herbstkollektion.
\nVielmehr: die neue Herbstkollektion, weil die Herbstjacke von letztem Jahr dieselbe ist. Blo\u00df der Gr\u00fcnton ist anders, und die Rei\u00dfverschl\u00fcsse sind jetzt rot.<\/p>\n

Die Freaks, K\u00e4ufer der ersten Stunde fanden rasch heraus, dass sie im Katalog nichts mehr fanden. Lifegestyltes Zeugs hatte die hochgesch\u00e4tzten Klamotten weitgehend verdr\u00e4ngt. Als nostalgisches Feigenblatt waren gerade ein paar Socken \u00fcbrig geblieben. Daf\u00fcr wuchs die Rubrik „Accessoires“ im Katalog: G\u00fcrtel, Schl\u00fcsselanh\u00e4nger und Handyetuis.
\nUnd die Uhrenkollektion.
\nGanz recht, wir k\u00f6nnen auch Uhren. Uhren macht schlie\u00dflich jeder, dem nichts besseres einf\u00e4llt als seine unverwechselbare Marke bis zur Verwechselbarkeit breitzutreten.
\nUnsere sind tatziger.<\/p>\n

Als n\u00e4chsten Meilenstein auf dem langen Weg nach unten – damals w\u00e4hnte man sich in der Gesch\u00e4ftsleitung noch auf dem aufsteigenden Ast – wurden in vielen St\u00e4dten „Flagship Stores“ er\u00f6ffnet, Pilgerst\u00e4tten der Markenfreaks, die ihren Teil zu jackwolfskinisierten St\u00e4dten beitrugen.<\/p>\n

Tatzen. \u00dcberall Tatzen.<\/p>\n

Wo die Tr\u00e4ger derartiger Kleidung, wenn sie sich denn einmal begegneten, in gegenseitigem Verstehen zunicken konnten, von Outdoormensch zu Outdoormensch, war das Nicken l\u00e4ngst nicht mehr praktikabel. Vor lauter Nickern h\u00e4tte jede Einkaufsmeile deutscher Innenst\u00e4dte an ein Heavy-Metal Konzert erinnert.<\/p>\n

Headbanging im Geiste des Wolfs.<\/p>\n

A propos deutsche Innenst\u00e4dte. Sie hatten, das ist eine wenig bekannte Tatsache, l\u00e4ngst einen Gespr\u00e4chskreis gegr\u00fcndet. Monat f\u00fcr Monat sa\u00dfen sie beisammen und klagten sich gegenseitig ihr Leid: „ich werde dauernd betatzt“.
\n„Komisch,“ sprach ein Wald, der zuf\u00e4llig zu Gast war, „mir kommt es vor, als st\u00fcnden \u00fcberall Schilder, auf denen ‚Pfoten raus‘ zu lesen ist“.<\/p>\n

Und es jackwolfskinisierte sich weiter.<\/p>\n

Die Familie selbst hatte sich l\u00e4ngst aus dem Unternehmen zur\u00fcckgezogen, an einen Investor verkauft.
\nAuf Investoren dreinschlagen ist wohlfeil. Es gibt genug schlechte Beispiele.
\nUnd sicher ist es f\u00fcr die Herzblut-Fraktion leichter, Anerkennung bei den Fans zu finden.
\nIch erlaube mir auch, daran zu zweifeln, dass ein abh\u00e4ngig besch\u00e4ftigter Gesch\u00e4ftsf\u00fchrer in Dekaden denkt. Dass er den langfristigen, seine eigene Existenz \u00fcberdauernden Erfolg des Unternehmens im Sinn hat.
\nProfit ist per se nicht verwerflich, sondern sogar notwendig.
\nUnd auch den Gr\u00fcndern sei von Herzen geg\u00f6nnt (Aha! Die Herzblutfraktion spricht!), dass sie mit ihren geilen Ideen, den genialen Produkten auch ordentlich verdienen.
\nEs kommt viel zu oft vor, dass Idealismus Lorbeeren, und zu selten, dass er Reichtum erntet.<\/p>\n

Aber – ich wette, liebe Leser, ihr habt die ganze Zeit auf ein „aber“ gewartet. Hier ist es: aber der Bogen kann auch \u00fcberspannt werden. Die Crux daran ist leider, dass man es erst merkt, wenn es zu sp\u00e4t ist.<\/p>\n

Wenn er bricht.<\/p>\n

Der Bogen.<\/p>\n

Der Marktanteil.<\/p>\n

Seltener der Kunde, der die Jackwolfskinisierung nicht mehr ertr\u00e4gt, und stattdessen zu anderen Marken abwandert, die sich l\u00e4ngst in jenen Nischen festgesetzt haben, die dem gr\u00f6\u00dfer gewordenen Unternehmen zu mickrig geworden sind.<\/p>\n

Ein Symptom, vielleicht nicht einmal das, eher ein Hinweis auf eine weitere, noch niedrigere Stufe der Jackwolfskinisierung ist ein seltsames Gebaren, wenn es um rechtliche Themen geht.
\nMan w\u00e4hnt sich in einem Schutzrecht verletzt, und prompt mahnt man den vermeintlichen Markenverletzer ab.
\nVollkommen \u00fcberrascht vom hereinbrechenden Shitstorm sieht man sich zum Zur\u00fcckrudern gen\u00f6tigt, und noch w\u00e4hrend man eifrig paddelt, gelobt man gleicherma\u00dfen feierlich wie kleinlaut, man w\u00fcrde k\u00fcnftig mehr Fingerspitzengef\u00fchl walten lassen.
\nDie jackwolfskinisierte Marke ist derma\u00dfen berauscht von ihrer eigenen Bedeutung, dass jede unkontrollierte Nennung des eigenen Namens als Bedrohung wahrgenommen wird. Kein Wunder, wenn der Verstand aussetzt.<\/p>\n

Der erfolgreiche J\u00e4ger leidet unter Verfolgungswahn.<\/p>\n

Ein Ger\u00fccht will \u00fcbrigens von einem Plan wissen, europ\u00e4ische W\u00f6lfe auszurotten.
\nWeil deren Tatzen das Markenlogo kopieren.
\nOhne Genehmigung.
\nWie gesagt: es ist nur ein Ger\u00fccht.<\/p>\n

Eine jackwolfskinisierte Firma hat ein gro\u00dfes Problem: weil gro\u00dfe Teile der Welt jackwolfskinisiert sind, weil das Logo der jackwolfskinisierten Marke all\u00fcberall in B\u00fcros, Kinos, Autos, auf Bahnsteigen Autobahnrastst\u00e4tten und in Parks – seltener in der freien Natur, getragen wird. Weil es l\u00e4ngst auf Koffern, Taschen, Jacken, Hosen, G\u00fcrteln und anderen Bestandteilen der jackwolfskinisierten urbanen Uniform geworden ist, glaubt man die Grenze des Wachstums erreicht.<\/p>\n

Was tun?<\/p>\n

Es gilt, eine weitere Stufe der Jackwolfskinisierung zu erklimmen. Besser gesagt: zu erst\u00fcrzen, denn es geht wiederum abw\u00e4rts. Man entdeckt etwas f\u00fcr sich, das sch\u00f6n mit „neuen M\u00e4rkten“ umschrieben werden kann. Konkret springt man auf einen Zug, der gen Trailrunning f\u00e4hrt.
\nM\u00f6glicherweise sogar mit brauchbaren Produkten (ich verf\u00fcge \u00fcber keine pers\u00f6nliche Erfahrung).
\nSchwierig wird die Sache f\u00fcr eine jackwolfskinisierte Marke dadurch, dass sie bereits sehr bekannt ist. Das stellt sie vor die Herausforderung, im neuen Markt ernst genommen zu werden.<\/p>\n

Jedem alles sein wollen, das wird nicht leicht, denn everybody’s darling is everybody’s depp<\/em>.<\/p>\n

Jetzt wird also auch Trailrunning betatzt.<\/p>\n

Vielleicht klappt’s ja.<\/p>\n

Falls nicht, falls der Bogen bricht, erleben wir das Endstadium. Es m\u00fcndet im Gang zum Discounter. Kappa wird heute bei Lidl verramscht.
\nWenn die Marke stark genug ist, erbarmt sich eines Tages vielleicht jemand.
\nSchrumpft gesund.
\nEtwas kleiner und viel feiner.
\nFokus auf Freaks?<\/p>\n

Erst cool, dann \u00fcberall, am Ende peinlich. Jackwolfskinisierung.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Manche Firmen erwerben sich mit guten Produkten einen guten Ruf. Sie sind vollkommen zu Recht erfolgreich. Und doch muss es irgendwo einen Knopf geben, der, sobald man ihn dr\u00fcckt, einen unaufhaltsamen Verfallsprozess in Gang setzt: die Jackwolfskinisierung.<\/p>\n","protected":false},"author":22,"featured_media":0,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[6],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2060"}],"collection":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/22"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=2060"}],"version-history":[{"count":19,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2060\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":2079,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2060\/revisions\/2079"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=2060"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=2060"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/das-lauferei.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=2060"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}